Zuckerpuppen


Sie sind die süßesten Eisbarchen, seit es Zuckerwürf el gibt. Selten Hat die britische Musikpresse einen Sound-Import so einhellig auf den Newcomer-Thron gehoben wie die Sugarcubes aus Island. Sylvie Simtnons forschte zwischen Fjorden und Mitternachtssonne nach den Geheimnissen der nordischen Insulaner.

Hoch über Schottland auf dem arktischen Kreis schwebt Island wie ein Sahnehäubchen — eine unwirkliche und unwirtliche Gegend mit Gletschern und den 200, zum Teil noch aktiven Vulkanen. Auf je 1200 Einwohner kommt ein Vulkan. Schon Jules Verne glaubte, daß Island das Tor zum Mittelpunkt der Erde sei. Hundert Jahre später bringt die Insel eine Gruppe hervor, die nach Meinung englischer Kritiker genau in das Zentrum des Musik-Universums trifft.

Das erste Mal hörten wir von ihnen im Sommer 1987, als sie ihre erste Single „Birthday“ veröffentlichten. Und es war wirklich ein Grund zum Feiern. Ihre Musik war unvergleichlich und fesselnd, auf eine kindliche Art neunmalklug und doch intelligent, und die Texte — auf isländisch geschrieben und nachträglich übersetzt — aufregend poetisch.

Sängerin Bjork war der geborene Star: ein theatralischer Troll in einem Kinderparty-Dress — auf einem Arm den Magischen Kreis tätowiert (ihre Mutter ist Wahrsagerin), auf dem anderen ein Baby. Ein Mädchen mit einer unheimlichen Stimme und teuflischen Eskimo-Augen.

Die Musikpresse war fasziniert. Das war nicht nur brillant, nicht nur ideologisch einwandfrei, da war auch noch der Typ Kindfrau, in den sie sich seit der vom Pech verfolgten Debbie Harry nicht mehr festbeißen konnten.

Der Hype staute sich wie Scheiße in einem verstopften Toilettenabfluß. Doch nachdem sie mit drei exzellenten Singles und einigen Auftritten in London wirklich überzeugten, wurden die Sugarcubes in England gleich zur „besten Band schlechthin“ erklärt. Glücklicherweise konnte das Debüt-Album LIFE’S TOO GOOD all den Lobeshymnen, die sich über ihnen zusammengetürmt haben, problemlos standhalten. Songs über kleine Mädchen, alte Männer, Gott, Autounfälle, bizarre Dämonen, Songs, die (wie es der „Melody Maker“ formulierte) „am Barte Dalis herabgleiten, um auf der Chromspitze eines Bajonettes zu landen“.

Die großen Plattenfirmen wollen natürlich jetzt auf den fahrenden Zug aufspringen, doch die Sugarcubes verlangten ganz bewußt astronomische Summen und eine vollständige Kontrolle über ihre Produkte. Inzwischen haben sie (nur für Amerika) bei Elektra unterschrieben, rechtzeitig für ihre erste US-Tour (die Ende Mai begann), zuhause in Island aber bleiben sie nach wie vor ihrem eigenen Label „Bad Taste Ldt“ treu; dort erschienen auch Lyrik-Bände und Geschichten von Gitarrist Thor. Bassist Bragi und dem zweiten Sänger, Trompeter und Frontman Einar. „Unsere Band“, sagt Keyboarder Melax in gebrochenem Englisch.

„ist eher eine Gemeinschaft von Leuten, die sich in verschiedenen Kunstsparten betätigen. Deshalb haben wir unsere Firma auch .Bad Taste‘ genannt. „

„Wirhaben z. B. Kitsch-Postkarten gedruckt, als Gorbatschow und Reagan sich auf dem Reykjavik-Gipfel trafen“, sagt Bjork, die in ihrer weißen Samtkutte auf der Mini-Bar des Hotelzimmers thront, die von Drummer Siggi gerade nach Bier durchsucht wird; Isländer trinken nun mal aerne.

„Wir machten ein Aquarell mit den Gesichtern der beiden und setzten Islands Landschaft dahinter. So scheußlich, ich hält’s mir nie gekauft. Doch wir verkauften sie 5000 Mal — ein richtiger Bestseller in Island.“

Und Bragi (auf Krücken, weil er bei einer Zugabe von der Bühne fiel) erinnert sich:“.Dann haben wir es mit Immen Abenden für jedermann versucht. Wir wollen auf Island endlich mal eine Bar aufziehen, die erst morgens um fünf dicht macht.“

Die Band sieht sich als ein „surreal-anarchisches Trash“-Kollektiv. „Wir sind Outlaws“. erklärt Melax. „wobei es allerdings fast schon wieder normal ist. in Island ein Outlaw zu sein. „

Die anderen lachen, aber Melax redet todernst weiter: “ Vor 150 Jahren hat man die Geächteten ausgestoßen und in die Berge geschickt. Es gibt unzählige Hohlen, die früher von den Ausgestoßenen bewohnt wurden.“ Der Rest der Band stimmt prompt ein altes Klagelied der Geächteten an. „Wirhaben.“ lacht Bragi.“.unseigentlich gar nicht über die Musik kennengelernt, sondern durchs Schreiben, Dichten — und durch Sex.“

Und tatsächlich — trotz all der Attribute zwischen „himmlisch“ und „metaphysisch“ — die Sugarcubes sind auch sehr sexv. sehr erdig.

„Okay, sexy kann ich akzeptieren“, sagt Bjork, „aber das ist nur ein Aspekt, es gibt noch 20 andere: glücklich, verärgert, traurig, sexy, witzig, langweilig. Unsere Musik beinhalte! auch mich, wie ich aufs Klo gehe, unser Frühstück, aber auch unsere Philosophie. Unsere Musik spielt im täglichen Leben, dazu gehört natürlich auch Sex. Was im Fernsehen und nur in den Köpfen der Leute passiert, wie dieser Fantasy-Quatseh, langweilt uns. Wir spielen keine galaktischen Sachen, wir spielen den Alltag.“