Abba


Um eines gleich vornherein klarzustellen: Home-Stories und Hit-Chronologien über Abba (eingetragenes Warenzeichen) sind fürwahr genug geschrieben worden. Und gefühligen Starjournalismus wollen wir auch in Zukunft den für solche Entgleisungen zuständigeren Blättchen überlassen. Aber: auch ein Rock-Magazin kann sich auf die Dauer nicht an einem kommerziellen Phänomen vorbeimogeln, das in unserem Jahrzehnt einzig dasteht. Gerade dann nicht, wenn man der festen Überzeugung ist, daß hinter dem blendenen Reklamelächeln einer Erfolgsfassade kaum mehr zu finden ist als Mr. Mammon persönlich, der pausenlos nur eines zählt: Money, Money, Money.

Die rein finanzielle Seite des Falles Abba läßt sich noch am einfachsten überschauen. Schätzungen zufolge haben Björn und Benny, Agneta und Annafried seit ihrem Waterloo-Scharmützel über hundert Millionen DM umgesetzt. Davon dürften pro Jahr mindestens zwei Millionen in die Taschen jedes einzelnen geflossen sein. Bilanz des Welt-Tonträgerumsatzes: 30 Millionen Singles, 15 Millionen LP’s. Im bescheidenen BRD-Rahmen kamen die properen Schweden allein 1976 auf 1,6 Millionen Singles und 1,4 Millionen Longplayers. Aber nicht nur diese lukrative Bilanzbuchhaltung bedingt die exponierte Stellung von Abba — da haben andere schon ganz andere Stückumsätze getätigt. Nein. Was die Gruppe zum lohnenden Objekt eingehender Betrachtung macht, ist die Tatsache, daß sie wie wenige zuvor die Verkörperung des internationalen Showbusiness schlechthin ist, dessen Produkte im Stromlinenkanal kommerziellen Kalküls auf ein Höchstmaß an Marktglätte und Konsumierbarkeit zurechtgeschneidert werden. Genau das gelang im Falle ABBA mit geradezu atemberaubender Perfektion. Im Schlagerland gehören dazu drei grundlegende Fabrikationsvorgänge: die Musikmontage, die Imagemontage und die Karrieremontage.

Musikmontage

Als Abba im 1974er Frühjahr einer halben Milliarde Fernsehzuschauer ihren Schlachtgesang ,, Waterloo “ entgegenschmetterten, erkannten die wenigsten, daß die vier bereits auf der Wellenkrone eines neuen internationalen Musikgeschmacks schwammen. 1974, das bedeutete zehn Jahre Beat und 2o Jahre Rock’n’Roll, aber zugleich ein kreatives Vakuum für die gesamte hieraus erwachsene Popzenerie. Der Abba-Sound paßte sich mit schier genialem Timing einer geschmacklichen Trendwende an, die in dieser Zeit des musikalischen Stillstands breiteste Bevölkerungskreise zu erfassen begann. Kurz darauf untermauerte Abba’s Plattenfirma diese allgemeine Entwicklung für den deutschen Markt mit handfestem Zahlenmaterial. Internationale Populärmusik schob sich (von Billigplatten einmal abgesehen) zwischen 1972 und 1974 von 45 auf 60 Prozent Marktanteil vor – zuungunsten nationalen Singsangs. Ein Nachrichtenmagazin mutmaßte: „Die Beat-Generation von gestern stellt heute die geschmacksbildende Käufergeneration auf dem Schallplattenmarkt. Phon-Orgien setzt sich ein gesettelter Familienvater von Ende zwanzig allerdings kaum noch aus. Aus dem Beatkeller ins Apartment aufgestiegen, genießt er nun — modisch und mäßig — Party-Pop und Soft-Rock.“

Party-Pop und Soft-Rock: das war und ist Abbas Domäne. Eingängiges Entertainment, das in steriler Studio-Atmosphäre so perfekt produziert ist, daß es trotz rockiger Grundessenz einer alten Branchen Weisheit genügt: Sie besagt, daß echte Hits nur dann zu machen sind, wenn man ein Publikum von acht bis 80 Jahren erreicht.

An den kompositorischen Kapazitäten von Benny Andersson (30) und am Arrangement-Geschick von Björn Ulvaeus (32) soll hier gar nicht herumgekrittelt werden: selten zuvor ist es gelungen, den kleinsten gemeinsamen Geschmacksnenner eines so großen Publikums auf solchem Niveau zu befriedigen. Ihre Hochglanzprodukte sind allerdings kaum eine Bereicherung der zeigenössischen Musikszene. Sie zehren von den Pionierleistungen anderer. Sie verwalten einen kreativen Notstand, anstatt ihn zu lindern. Abba-Songs sind wie Werbespots: glatt, konfektioniert und berechnend. Man kann sie nicht nachempfinden, man kann sie nur konsumieren.

Anschließend sind sie wie Zeitungen vom Vortage: Abfall. Einwegware vom Verpackungskünstler. Aber ein Triumph des Marketing—Managements, dem es egal ist, ob es in zehn Jahren eine Abba-Legende gibt. Aber es wird keine geben.

Imagemontage

Ein perfekter Sound allein hat selten eine Platte verkauft. Drei Dinge braucht ein Hit, wie schon gesagt. Ding Nummer zwei: das totale Image. Abba hat’s. Ein Image, das den Bedürfnissen ihrer Konsumenten nachhaltig gerecht wird. Dabei geht es nicht nur um die optisch reizvolle und durch „nordische Erotik“ abgerundete Konstellation zweier harmonischer Pärchen. Die Verhältnisse der vier sind auch nach innen hin geordnet. Ihr gebremster Sex entspricht den Anforderungen bürgerlicher Gesetztheit. Da bleibt kein Raum für erotische Spekulationen, da fehlt die mit unterschwelligem Neid betrachtete Anrüchigkeit des Star-Jet-Sets. Die Abbas sind die Saubermänner von nebenan. Ihre Welt ist in Ordnung, blitzblank wie ihre Songs. Aber sie ist nicht zu durchschnittlich, um pure Langeweile zu atmen. Da gibt es ein Paar, das in trautem Eheglück das Leben meistert, die Morgensonne, die Landluft und sein treuumsorgtes Töchterchen liebt. Und da gibt es ein anderes Paar, Spätaufsteher, wilde Ehe, wenn auch nicht zu wild, kurz, die nötige Prise Pfeffer im Hausmanns-Einerlei. Poppige und peppige, brave und biedere, angepaßte und aufmüpfige Zeigenossen: da ist für jeden Durchschnittsbürger ein Identifikationsangebot vorhanden. Und die internen Rollen sind klar verteilt: die Männer „machen“, die Frauen repräsentieren. Keine Dissonanzen störten die Idylle, nicht in der Musik, nicht im Text. Abbas antiseptische Reime kennen keinen Tiefgang, keine Probleme, keine Emotionen.

Mustergültig ist auch das offizielle Zusammenleben der vier: Allen Reibereien zum Trotz vermitteln sie ein Bild demonstrativer Geschlossenheit. Als Annafried einmal eine Solo-Eskapade unternahm,pfiff Manager Stig Anderson sie umgehend zurück. Das absatzgarantierende Gruppenprofil durfte nicht durch Extratouren gefährdet werden. Solange die Devisen regnen, bleibt einträchtiges Keep-Smiling angesagt.

Karrieremontage

,,… denn heute gehört uns England und morgen die ganze Welt“ lautet die Leitmaxime des Europop. Stig Anderson (45), neureicher Polar-Plattenboß und Abba-Manager, beherzigte sie gründlich. Wie er überhaupt das Quartett seit Anbeginn an die kurze Leine marktpolitischer Notwendigkeiten gelegt hatte. Seine Ausgangsvoraussetzungen als Konstrukteur einer Traumkarriere waren günstig. Er verfügte über vier versierte Musiker, die sich in Skandinavien schon längst eine Publikums-Hausmacht zusammengesungen hatten. Das war ein Trumpf in der Rückhand bei möglichen internationalen Pleiten. Zu den kompositorischen Qualitäten der beiden männlichen und der Publikumswirksamkeit der weiblichen Bandmitglieder fügte Anderson als fünfter im Bunde das entscheidende Erfolgsmoment hinzu: kaumännisches Kalkül. Obendrein verfügt er über das treffsichere Hitgespur eines musikalischen Wünschelrutengängers. Ohne seine Zustimmung verläßt kein Abba-Song die Firma „Polar Music AB“ in der Stockholmer Baldersgatan 1.

Der risikoreichste, dafür aber schnellste Weg zu europäischer Popularität führt derzeit über eine Promotionsschiene, die Femsehstationen und Rundfunksender der internationalen Plattenindustrie unentgeltlich zur Verfügung stellen. „Grand Prix“ heißt das seichte PR-Spektakel, das im Angesicht hundertmillionenfacher Einschaltquoten schon zahllose Karrieren abgewürgt und einige wenige begründet hat. Nach hartem Ringen um die nationale Nominierung passierten Abba 1974 im britischen Seebad Brighton das Nadelöhr auf dem Weg zum Bestseller und ließen die Schlacht mit ihrem Waterloo-Erfolg enden. Seither liegen die europäischen Charts unter einem Trommelfeuer kommerzieller Ohrwürmer, die in Stockhohn seriell gefertigt werden. Mit englischen Texten und Middle-of-the-Road-Konfektion eroberten sie die britische Inselbastion — der Rückkoppelungseffekt für Kontinentaleuropa ist bekannt. Und auch anderswo läufts: Mit „Dancing Queen“ erreichte Abba Anfang April 1977 zum erstenmal auch die Spitze der amerikanischen Charts.

Klotzige Werbung

Kein Wunder. Ein gutes Produkt in den Fingern und das todsichere Multimillionen-Geschäft vor der Nase, kleckerten Abbas Geschäftspartner — vor allem die Plattenfirma – nicht. Sie klotzten, hetzten die Gruppe von Empfängen zu Interviews, von Pressekonferenzen zu Autogrammstunden, von TV-Aufzeichnungen zu Goldverleihungen.Kein kaltes Büffet war teuer genug, um aus der Demonstration beispiellosen Erfolgs neues Kapital zu schlagen. Die Medien hängten sich in seltener Geschlossenheit an, um auf dem hell flackernden Nordlicht ihr eigenes Auflagensüppchen zu kochen: von der Regenbogenbis zur Gewerkschaftspresse zierten die (zu Unrecht) zu Beatles-Nachfolgern stilisierten Edelmusikanten die Titelseiten zahlloser Blätter. Funk und Fernsehen, die Publikumswünsche im Nakken, trommelten eilfertig mit.

Die Materialschlacht ums deutsche Ohr erreichte ihren Höhepunkt termingerecht zur Abba-Tour im Spätwinter. Ein Branchendienst klopfte der Polydor-Werbecrew wegen ihres selbstlosen Einsatzes auf die Schulter: „Abba lebensgroß auf Posterfolien, Abba als Bildposter mit Hinweisen auf die Gold-LPs, Abba-Hubschrauber auf Anzeigenseiten und Taschenhüllen, Abba als monumentale Foyer-Dekoration, und selbst Abba-Sandwichmänner sollten in der letzten,heißesten Phase vor dem Tourneebeginn noch einmal Appetit auf das Schweden-Quartett wecken.“ Die Mühe war nicht vergebens. Pro Karte für die im Handumdrehen ausverkauften Konzerte wurden Schwarzmarktpreise bis zu 300 Markt gemeldet.

Dabei hätte man sich das Geld getrost sparen können. Die in Sachen Kritik wenig zimperliche englische Fachpresse resümierte trocken: „Wenn Abba eine Live-Gruppe sind, dann waren es die Monkees auch“ (New Musical Express). Das ist den Abba-Betreuern kaum verborgen geblieben. Aber sie lassen trotzdem weiter touren — um die Gruppe im Gespräch zu halten. Schließlich verfügen sie über eine beruhigende Erkenntnis, die Stig Anderson der britischen Sounds offenbarte: „Die Leute sind nicht so dumm, wie wir glauben. Sie sind noch dümmer.“