Boston – Mehr als eine Eintagsfliege?


Ende Sommer vorigen Jahres war s als Boston meine Stereoanlage heimsuchten. Nichts ahnend legte ich die frisch per Post gekommene LP auf, geriet schon bald ob des glasklaren Sounds in Verzückung und war schnell mit mir selbst einig: Endlich mal wieder Hard-Rock ohne besondere Kraftmeierei, zwar manchmal ein bißchen maniriert, aber mit zündenden Melodien, hübschen Vokalsätzen sowie einigen simplen, aber treffsicheren Effekten. Und „More Than A Feeling“ als Hit par excellence. Allenthalben eitel Freude, kein Problem also? Denkste!

Die naive Freude (oder der naive Haß) eines Rockfans an einer neuen Platte wird dann problematisch, wenn sich eben diese Platte zum Verkaufsschlager entwickelt! Solche Popularität schließt nämlich die einfache Einordnung „gefällt mir“ oder „finde ich blöd“ gänzlich aus; nun, da die LP „Boston“ in den USA in Platin gegossen und zum erfolgreichsten Debutalbum der letzten zehn Jahre gekürt worden ist, sie sich sogar in der BRD bald hunderttausendmal verkauft hat, suchen die Kritiker wie die Fans auf Teufel-kommraus nach halbwegs Tiefsinnigem. Hinz und Kunz fühlen sich bemüßigt, Boston auf den vermeintlichen Grund zu gehen. Nur: da ist gar kein Grund.

Da die übrigen Bandmitglieder Bradley Delp (voc), Fran Sheehan (bg), Sib Hashian (dr) und Barry Goudreau (g) kaum Anlaß für Schlagzeilen boten, hält sich die internationale Liga für wissenschaftliche Hit-Untersuchung eng an Boston-Chef Tom Scholz (g, keyb), seines Zeichens Ing. grad. des Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT genannt. Ihm verdankt Boston den bewundernswerten Sound, die amüsanten Tricks sowie nahezu das gesamte Songrepertoiretoire.

Aber jetzt kommt’s. Tom Scholz hat früher für die Foto-Firma Polaroid gearbeitet – das war manchen Leuten schon eine halbe Story wert; Tom Scholz hat die Ur-Demos für „Boston“ im eigenen Keller mit einer 75000 DM teuren 12-Spur-Maschine eingespielt – was eine schaurige und doch schöne Geschichte über das verbissen im Dunkeln werkelnde, verkannte Genie abgab; Tom Scholz hat die Demos an jede Plattenfirma geschickt, doch alle außer Epic lehnten ab – herzerweichend, aber steinalt ist diese Anekdote. (Bei der EMI in England zum Beispiel beißt man sich noch heute in den Hintern, weil man 1964 das Quartett High Numbers ablehnte, das heute als The Who bekannt ist.)

Angloamerikanische Schreiber notierten die Wurzeln, die sie in der Boston-Musik erkannt zu haben glaubten. Aneinandergereiht ergibt dies folgende Liste.

Wurzelgestrüpp

Boston sind beeinflußt von Hendrix, Bowie, Bachmann Turner Overdrive, Led Zep, Raspberries, Black Sabbath, Nice, Stealer’s Wheel, Todd Rundgren, Deep Purple, Moody Blues, Yes, ELP, Queen, Grand Funk und den Doobie Brothers. Demgegenüber behauptet Boston’s offizielle Biografie, die Gruppe besitze einen individuellen Sound. Und Tom Scholz, nach seinen Vorbildern befragt, nennt locker die Kinks, die Hollies, die Yardbirds, Joe Walsh und Jeff Beck …..

Pause! Der Verfasser genehmigt sich auf diese Schrecken erst einmal einen Cognac.

Und maßt sich nun, frisch erholt, sogar weitere Deutung an. Boston stammen aus Boston, jener Stadt, die uns auch die J. Geils Band und Aerosmith bescherte, und spielen etwa seit Ende 1975 zusammen. Weder Tom Scholz, der ursprünglich aus Toledo/Ohio stammt, noch die restlichen Bostons blicken auf eine rühmliche Vergangenheit zurück: Sie alle spielten bestenfalls in lokal berühmten Gruppen wie Mother’s Mike, Revolting Tones Revue oder Middle Earth. Die Boston-Musik lebt von den Ideen und Tricks des neunundzwanzigjährigen Scholz, der bei seiner Gitarrenarbeit Einflüsse von Jeff Beck (Entlanggleiten an der unteren E-Seite) wahrlich nicht verleugnen kann. Der Sound der Band ist alles andere als individuell oder neu, im Gegenteil reiht er Klischee an Klischee, jedoch derart perfekt und aufgemöbelt, daß man durchaus auch von positivem Eklektizismus sprechen kann. Die LP „Boston“ ist sicherlich eine gelungene Essenz aus diversen Stilen der vergangenen Jahre, mit all deren Stärken und Schwächen. Und „More Than A Feeling“, zu Recht ein Welthit, den Scholz bereits vor fünf Jahren komponiert hat, erinnert harmonisch stark an „Badge“, jene Eric Clapton/ George Harrison-Komposition, die der legendären Cream 1968 einen Hit einbrachte.

Würgegriff

Aber jetzt laufe ich auch Gefahr, Boston unangemessen zu analysieren. Eigentlich nämlich sind Boston eine Mücke – allerdings eine sehr schöne -, die jedoch inzwischen von dem Elefanten, den man aus ihr gemacht hat, zertreten worden ist. Doch ähnlich ist es dank allzu viel Publicity auch schon Bruce Springsteen, Bob Marley und sogar einigen Punk-Rockern ergangen. Ich versteh‘ manchmal wirklich nicht, warum der Rock und alles, was damit zusammenhängt, seine eigenen Sprößlinge erwürgt. Das erinnert mich immer an Peter Green, der einst als gefeierter Star aus dem Rockgeschäft ausstieg und dann sinnigerweise als Totengräber arbeitete …..