Popkolumne, Folge 83

Cause a scene: Paulas Popwoche im Überblick


... über Straßenkampf, egale britische Musiker und Girl Gangs.

Die Trends bei Twitter, kurz bevor ich diese Kolumne ins Mailprogramm „reinpropfe“ (neues Wort gelernt), lauten: Polizeiproblem, Einzelfälle, Die Mehrheit der Deutschen, Kochlöffel, Kanye, Polizist, Legalisierung, Teppichkloper, Harry Potter, Sommerhaus, Kachelmann. Okay, ja, es ist mal wieder ein rechtes Netzwerk bei der Polizei entdeckt worden, J.K. Rowling hasst weiterhin Transmenschen und Leute machen sich erneut über den „verrückten“ Kanye West lustig, was der Rest soll, I don’t know (lies: care). Doch au contraire, da kommt was Neues rein:

#JokoundKlaas, #LeaveNoOneBehind

Die beiden TV-Heinis haben ihre 15 Minuten, die sie immer bei irgendwas auf Pro7 gewinnen diesmal dem Thema Moria gewidmet. „A Short Story Of Moria“ heißt der Film, in welchem der Geflüchtete Milad seine Geschichte erzählt und über die Zustände auf der Flucht und im Lager aufklärt. Man sieht auch Aufnahmen des Tages, an dem das Feuer ausbrach, die erneute Flucht der Menschen und die Gewalt der Polizei gegenüber den Familien. Besonders erschreckend ist es zu sehen, wie bei jeder Verletzung, jedem Elend die Kamera draufgehalten werden muss, weil die Menschen außerhalb sich halt sonst nicht dafür interessieren würden, was dort passiert. Zu der Möglichkeit, dass Menschen aus dem Lager das Feuer selbst gelegen haben könnten (was vollkommen verständlich und legitim wäre), sagt Milad: „Sie haben die ganze Welt zum Hinsehen gezwungen.“

https://youtu.be/XRqN9E9boCY

Jetzt dürfen wir nicht (wieder) aufhören, hinzusehen, zu fordern und auf die Straße zu gehen und vielleicht müssen wir dafür unsere Kräfte schonen und Burnouts wegen Diskussionen mit Rassisten im Internet vermeiden. Like, wessen Satirediskussion-Stempelkarte spätestens seit der Causa Somuncu voll ist. Außerdem hat Susi Bumms, das Genie hinter der Band The Screenshots, eh bereits alles treffend zusammengefasst:

https://twitter.com/susibumms/status/1305825848826695681

Auch auf der Straße: Die Veranstaltungsbranche

Wir Leute aus der Kulturszene kennen das Spiel seit Monaten: Veranstaltungen werden versucht durchzuführen, Konzepte erarbeitet, das Publikum und die Mitarbeiter:innen aufs Minimum reduziert oder es wird doch alles ganz abgesagt. Ich finde es begrüßenswert, wenn Drinnen-Veranstaltungen nicht stattfinden, weil ich das Risiko zu hoch finde, das sich dort ergibt. Aber: An Veranstaltungen hängen Existenzen. Die Menschen an der Bar, die ihr Studium damit finanzieren, die selbstständigen Techniker:innen, die Bookingagenturen, Menschen, die auf Messen arbeiten, Reinigungskräfte, Künstler:innen und so weiter und so fort. In der Veranstaltungsbranche arbeiten rund eine Million Menschen. Unter dem Motto „Alarmstufe Rot“ gingen am 9. September tausende Menschen auf die Straße, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Auf www.alarmstuferot.org kann man erfahren, wann die nächsten Demonstrationen anstehen und wie man den Kampf sonst unterstützen kann.

Film der Woche: „Mignonnes (Cuties)“

Habe mir den Skandalfilm angesehen. Im Vorfeld der Netflix-Veröffentlichung wurde dieser in den sozialen Medien stark kritisiert und es gibt noch immer einen Hashtag und eine Petition, die fordern, ihn zu entfernen. Das Ding ist: Der Film ist unglaublich gut. Selten habe ich eine so gute Umsetzung davon gesehen, wie es ist, als Mädchen sozialisiert zu werden.

Die 11-jährige Amy kommt aus einem konservativen Haushalt, in welchem ihr beigebracht wird, dass ihr unverdeckter Körper voller Sünde ist und sie sich auf ein Leben vorbereiten soll, in dem sie der von Männern beherrschten Familie dient. Gleichzeitig sieht sie in der Schule, wie Mädchensein auch gehen kann: sexualisiert, in Konkurrenz zueinander und ebenfalls dem männlichen Blick dienlich. Dazwischen scheint es nichts zu geben und das zerreibt. Denn nichts von beidem macht Amy glücklich, weil sie sich in beidem nicht wirklich wie sie selbst fühlt, sondern immer nur imitiert und performt. „Mignonnes“ zeigt die Identitätssuche in einer Gesellschaft, in der sehr früh festgelegt wird, welches Gender man hat und wie das auszusehen hat. Für das was man wirklich will, ist da kaum Platz. Auch ohne, dass in dem Film viele Männer zu sehen sind, die einen in die Rolle drücken, wissen alle Frauen, wie sie sich im Patriarchat zu verhalten haben, sie tun sich das alles nämlich auch gegenseitig an. Frauseinmüssen macht verflucht einsam und es bedeutet Abhängigkeit. Abhängigkeit von sozialen Gefügen, wie Familie und vermeintlichen Freundinnen, wirtschaftliche Abhängigkeit und Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Blick oder dem des nahen Umfeldes. Es gibt, vor allen in diesem jungen Alter, kaum Freiheiten.

Ich habe leider trotzdem etwas gegen den Film: Denn, auch wenn er treffend aufzeigt, was schiefläuft wenn wir Kinder zum Frausein erziehen, wird das nun mal an echten Kindern gezeigt. Kinder mit ihrem echten Körper, die sich tatsächlich für den Film in unbequeme, als sexy geltende, Klamotten zwängen und sich unterwürfig in ihnen bewegen mussten. Ich weiß nicht, wie man das generelle Problem um Kinderdarsteller:innen lösen kann, aber eigentlich kann man das nicht machen. Denn man weiß nie, wer sich was aus dem Film rauspickt und missbraucht. Und Kinder können die Tragweite dessen noch weniger einschätzen, als Erwachsene. Und der Missbrauch folgte leider auch prompt: Netflix hatte zum Film-Release einen eigenen Trailer und Plakat veröffentlicht, indem die Kinder in ihren „sexy“ Outfits gezeigt wurden, völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Die Regisseurin Maïmouna Doucouré erhielt daraufhin Morddrohungen und verließ Twitter. Die Leute da draußen an den Geräten sind halt oft ziemlich scheiße und man sollte Kinder dem nicht aussetzen.

Nerv der Woche

Letztens ist es geschehen: Ich watschelte in einen Supermarkt und vergaß, meine Maske aufzusetzen. Ich wurde irgendwann daraufhin gewiesen und habe mich wie der allerletzte Impfgegner und Trumpfan gefühlt. Nur um zu Hause im Internet zu lesen, weil die Alghorithmen spitz gekriegt haben, dass ich eine dieser peinlichen Oasis-Ultras bin und mir immer die neuesten Gallagher-Labereien reinspülen: Noel ist gegen die Maskenpflicht. Dann las ich bei „ähnliche News“: Ian Brown ist Coronaleugner. Und Robbie Williams hat ja unlängst auch schon Scheiße gelabert. Die alten Britpopper, was ist mit ihnen? Gerade war man noch traurig darüber und jetzt ist es vielleicht ganz gut: Diese Typen sind ja mittlerweile komplett egal.

Videos der Woche

Conchita Wurst feat. Lou Asril – Lovemachine

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Meine Güte, ist dieses Video hot und schön. Ästhetik 2020: so gut. Conchita und Lou mit ihren fantastischen Haaren, tollen Klamotten und sexy verbandelt. Damn! Der Song selbst braucht leider etwa zwei Minuten, um geil zu werden, aber dann denkt man: bitte, geh noch fünf Minuten.

Steiner & Madlaina – Wenn ich ein Junge wäre (ich will nicht lächeln)

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Sie gucken voll ernst! Steiner & Madlaina haben keinen Bock auf Gefälligkeit. Kinderkriegenmüssen, dumme Sprüche, Bevormundung – jede Generation braucht ihre Hymne gegen diese Scheiße. Und eine Gang. Hier ist eine neue: „Wir sind viele, wir sind wütend, wir sind motiviert“. Yes!

Lied der Woche: Das neue von Sia und David Guetta

Einer meiner softesten Spots ist für immer für Sia reserviert. Deswegen ignoriere ich auch die fiesen Features mit David Guetta nicht. Je nachdem, wie sehr es Guetta schafft sich zurückzuhalten, sind die Songs natürlich auch gut. Wenn ich mich nicht verguckt habe, gibt es mittlerweile neun Collaborations. Das neue heißt „Let’s Love“ und ich mags weil’s Laune macht und es Sia ist. 80s Vibes!

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Hier noch mein Ranking aller (?) Sias & Guettas:

Platz 1: Flames (2018)
Platz 2: She Wolf (Falling To Pieces) (2012)
Platz 3: Titanium (2011)
Platz 4: Helium (2018)
Platz 5: The Whisperer (2014)
Platz 6: Let’s Love (2020)
Platz 7: Light Headed (2018)
Platz 8: Bang My Head (2015)
Platz 9: Wild One Two (2012)

Die ans Ende noch hingerotzte Meinung über eine Männerband:

Ich fand Maximo Park immer ganz gut, aber das neue Lied klingt so, als wollten sie schnell noch mal beweisen, dass Indie not dead ist. Also wird geschrammelt und ein bisschen überzogen und zum hundertsten Mal irgendein Retro-Sound angeleiert. Aber der Text ist richtig toll, es geht ums Abgehängtwerden in sterbenden Orten, Lieblingszeile: „I was too shy to cause a scene“.

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Pizza Hawaii, Dream Nails und Sex: Linus Volkmanns Popwoche im Überblick

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