Das große Flanieren


Auf dem Wave Gotik Treffen in Leipzig schreien nur die Outfits - und mancher Industrialsänger. Die Besucher üben sich für ein Festivalpublikum in fast beispielloser Zurückhaltung.

Die gelbe Trambahn hält. Das Fahrziel, die Haltestelle „Am Eichwinkel“ im Süden Leipzigs ist erreicht. Auf der anderen Straßenseite liegt das ‚ Hauptgelände des Wave-Gotik-Treffens, kurz WGT genannt. Ein monotones Bassbrummen lässt die Fensterscheiben vibrieren. Die Türen der Tram schwingen auf. Das Brummen wächst zum Wummern. Dabei war es doch hier drin gerade noch wie im Feierabendverkehr: Im mit dunklen Gestalten voll besetzten Waggon wurde höchstens in gedämpfter Lautstärke gesprochen. Diese Festivalgäste üben sich in großer Zurückhaltung, wo sie stehen und gehen.

Der Lärm schallt von einer Tankstelle herüber. Dort parkt ein weißer Kleinbus, im Laderaum surrt ein Diesel-Aggregat. Ein schlaksiger Typ im weißen Unterhemd versorgt damit Keyboard, Synthesizer und die Soundanlage mit Strom. Das Industrialstampfen kommt aus den Boxen im Kofferraum. Etwa xoo zufällige Zuhörer stehen im Halbkreis, Ein barfüßiger Mann mit nacktem Oberkörper und schwarzer Dreiviertelhose steht im Mittelpunkt. Er leert seine Bierbüchse in einem Zug und schreitet mit einem Mikrofonständer in der Hand den Halbkreis ab. Dann bellt er in sein Mikrofon. Nicht zum letzten Mal an diesem Wochenende wird dieses für den Industrial typische Bellen zu hören sein. Und es erfüllt seinen Zweck: Immer mehr Publikum lockt es zur Tankstelle. Der halbnackte Sänger klettert auf das Dach des Kleinbusses, legt ein Büchsenbier nach und setzt seine Show fort. Unten verteilt einer Flugblätter: Aha, dieses Duo heißt „Steinkind“.

Die Zufahrtsstraße des Agra-Messegeländes im Stadtteil Markkleeberg, auf der einst Traktoren zu Landwirtschaftsausstellungen rollten, ist die Lebensader des Festivals. Sie fuhrt zu den Campingplätzen und der Hauptbühne und ist zugleich die Flaniermeile für WGT-Besucher. Die Moden der Schwarzen Szene lassen sich hier gut studieren: Schwere Schnürstiefel tragen fast alle. Dazu gerne Irokesenfrisuren oder Glatze. Enge, mit Ketten behangene Beinkleider, auch seidig schimmernde Aladinhosen. Ein beliebtes Accessoire ist die Schweißerbrille. Eine große, entschlossen dreinblickende Frau, die Taille in eine Korsage gezwängt, mit schwarz-rotem Lederrock, führt ihren Freund an einer Kette hinter sich. Der ist bis auf einen kleinen Kettentanga und sein Halsband nackt. Ein beliebtes Fotomotiv – WGT-Besucher fotografieren sich ausgesprochen gerne gegenseitig – sind die Gruft-Edeldamen in bauschigen Röcken, Rüschenblusen und engen Miedern, die ihre Blässe mit zerfransten schwarzen Schirmchen schützen.

Die Hauptbühne ist in einer Betonhalle untergebracht. Am späten Nachmittag ist sie nur zur Hälfte gefüllt. Doch spätestens am letzten Festivalabend, wenn Subway To Sally spielen, wird sie randvoll sein. Ein Durchgang mit Cafe, das an einen Schulpausenverkauf erinnert, verbindet die Halle mit einer baugleichen zweiten. Die erfüllt ihre ursprüngliche Bestimmung: Die rund 5000 Quadratmeter werden von einer Messe für die Szene belegt. Es fehlt an nichts: CDs, schwere Schnallenschuhe, Nietengürtel, Piercingschmuck, Gehstöcke mit Totenköpfen, Amulette, Latexunterwäsche, Gummi-Knebel, Peitschen. Entgegen des Klischees gibt es allerdings keine Särge. Und die Farbe schwarz ist lange nicht so dominant, wie man meinen könnte.

Ein Stand hat sogar einen rosa Anstrich. Die Verkäuferinnen tragen graue Uniformen, schwarze Stiefel und sehen mit ihren signalfarben umrandeten Augen aus wie einem Manga-Comic entschlüpft. Sie flechten Neon-Extensions in die Haare der Kunden. Schon seit ein paar Jahren mischen sich Elemente der Visual-Kei-Szene munter mit denen der Gothic-Kultur.

Ein paar Stande weiter steht Oswald Henke, Gründer von Goethes Erben – eine der bekanntesten Gruppen der Gothic-Szene. Er verkauft Schuhe mit Flammensohlen. Neben den Schuhen hängen Militäruniformen und ein OPBesteck-„Einzelstücke- Wenn weg, dann weg

-liegt an der Kasse aus. Henke war nur zweimal in 16 Jahren nicht beim WGT und weiß um dessen Eigenheiten: „Vorrangiggeht es ums Sich-Treffen, das unterscheidet es von anderen Festivals.'“Wie Leipzig zum Zentrum der Schwarzen Szene wurde, vermag er nicht zu sagen, den Fortbestand sieht er aber gesichert: „Die Szene befruchtet sich hier gegenseitig. Hier gibt es die Leute, die Clubs und die Geschäfte.“

In der Innenstadt mischen langst auch andere mit. Der Kaufhof kokettiert direkt hinter der Eingangstür mit dem Gothic-Style. Im Mittelgang zwischen Bürobedarf und Uhrenvitrinen stehen Tische mit Absinth und Met neben Kerzenständern und schwarzen Sofakissen. Die Schaufensterpuppen tragen statt Bermuda-Shorts lange schwarze Kleiderund Anzüge im Dandy-Look. H&.M hingegen verzichtet in diesem Jahr auf die schwarze Dekoration seiner Auslage. „Wir haben gerade eine Kampagne mit Kylie Minogue, das hätte nicht gepasst“, erklärt eine junge Verkäuferin,“… im nächsten Jahr bestimmt wieder“.

Hinter der Bezeichnung „Heidnisches Dorf verbirgt sich ein gut gemachter Mittelaltermarkt am Torhaus Dölitz. Neben der Feuerstelle sitzt ein Mädchen auf einer Decke. Sie hat einen breitkrempigen, violetten Hut auf, ihr langes schwarzes Kleid umwallt sie, die Unterarme stecken in Samtstulpen. Sie kommt aus Berlin und schläft auf dem Campingplatz. Weil ihr Zelt zu klein ist, stellt sie ihren Reifrock bei der Freundin im Nachbarzelt unter. „Die hat mehr Platz „Beim Gang aufs Dixi-Klo muss der Reifrock draußen warten. „Das ist doch kein Problem, wenn mich mal jemand in Unterwäschesieht“, sagt sie. Einer blonden Engländerin im weiß-gelben Barockkleid hilft ihre Freundin – eine Neo-Punkerin im praktischen Lederoutfit, die nachhilft, wenn das Kleid sich querstellt. Das Verrichten der Notdurft wird dann zu einem „friendship thing, you know‘.“.

Getrunken wird beim Wave-Gotik-Treffen in den für Festivals üblichen Mengen, bestätigt ein Schankwart im Heidnischen Dorf. Im Polizeibericht schlägt sich das jedoch fast gar nicht nieder. Ihre Zurückhaltung bewahren die 20.000 Besucher nicht nur an den immerhin 26 Auftrittsorten, sondern auch auf dem Zeltplatz. „Es ist eines der ruhigsten Festivals überhaupt-das wissen die, und das wissen wir. Auch wenn die Leute hier nicht so aussehen-…“, stellt ein kahlköpfiger Sicherheitsmann fest. Auch für die Sicherheit seiner jüngsten Besucher sorgt das WGT – im eigenen Kindergarten auf der Rückseite der Agra-Hallen. Und weil die Kinder von Wavern und Gothics nicht anders sind als andere Kinder, darf der Zaun des Kindergartens gerne bunt sein und nicht schwarz.

www.wave-gotik-treffen.de