Du hast Lola rennt nicht gesehen???


Es gab wieder so ein paar Filme dieses Jahr, an denen kam man nicht vorbei. Was tat sich noch? ME/Sounds-Film-Illuminatus Tomasso Schultze zieht Bilanz.

Soll noch einer behaupten, im Kino könne man nichts fürs Leben lernen. Wißbegierige wurden im Verlauf des letzten Film jahres von Hollywoods Elite darüber unterrichtet, daß Nuklearraketen von nahenden Asteroiden einfach abprallen, ohne daß sie deren Flugbahn verändern, daß 200 Rieseneier locker in beachtlich, aber dennoch beschränkt großen Echsenmutanten Platz haben, daß die „Titanic“ in der Mitte auseinanderbrach, wie ein Korken auf und ab poppte und erst dann in den Tiefen der See versank. Ah, Magie der bewegten Bilder! Aber auch Konkretes konnte man mit nach Hause nehmen: Die Gewißheit, daß es auf die Größe ankommt (ein Punkt, dem sich neben Godzilla auch Boogie Nights verschrieb – it’s a livin‘ thing) und daß „Fubar“ Soldatenslang für „bis zum Hals in der Scheiße stecken“ („fucked up beyond all recognition“, für alle, die’s gerne genau haben), zum Beispiel. Interessanterweise bewegte sich 1998 die gesamte Filmindustrie im Spannungsfeld dieser beiden Schiagworte. Obwohl nicht zuletzt dank lames Camerons unsinkbarer Titanic (weltweites Einspielergebnis: unvorstellbare 1,8 Milliarden Dollar) einmal mehr neue Umsatzrekorde erzielt wurden, dürften schon im nächsten Jahr erste Ergebnisse eines im Ansatz bereits spürbaren Umdenkungsprozesses spürbar werden. Nicht, daß die Unterhaltung künftig besser würde, wie man nach den Erfolgen von Die Truman Show oder Der Soldat James Ryan hätte hoffen können. Gott, nein, im allgemeinen Klima fundamentalistischer Kleingeisterei ist Progressives nicht wirklich zu erwarten. Damit keine Unklarheiten darüber herrschen, wie ein in seinen Grundfesten verunsichertes Hollywood sein Publikum kurz vor der Jahrtausendwende sieht: Zu rechnen ist mit einer Flut von noch mehr blöden Teenie-Horrorfilmen und noch blöderen Idiotenkomödien. Die sind preiswert herzustellen und weifen nahezu garantiert beträchtliche Profite ab. Daß im Zuge dessen auch die „Mini Playback Show“ in Tinseltown Einzug hält, ist ebenfalls bedenklich: Nichts gegen die Horden von farblosen Teeniedarstellern, die seit Scream in zunehmendem Maße die Leinwände bevölkern, nichts gegen die Jennifer Love Hewitts und Sarah Michelle Gellars und Katie Holmeses, die uns da optimistisch eindimensional entgegenstrahlen, aber der bloße Gedanke, daß Hollywood eine ganze Industrie um diese Vertreter der sorglosen Fun Generation aufzubauen versucht, läßt ganze Batterien von Alarmglocken losschrillen. Die „Bravos“ dieser Welt wollen eben mit neuen Gesichtern gefüllt werden, was soll’s. Ereignisfilmen oder gar riskanten Starvehikeln weht in diesem Klima der allgemeinen Verjüngung (Verdummung? Entscheiden Sie selbst!) ein eisiger Wind ins Gesicht. Aber der Reihe nach: Die erste Hälfte des Jahres 1998 gehörte zunächst einmal Titanic. Vor dem Start verlacht und mit der Bürde behaftet, schlappe 200 Millionen Dollar gekostet zu haben, machten sich ganz schlaue Journalisten den Spaß, in langen Artikeln vorzurechnen, daß ein derart teurer Film niemals Plus schreiben könne. Dann lief James Camerons Kahn vom Stapel, und nichts war mehr wie früher. Knappe fünf Monate verweilte er auf Platz eins der Charts, kassierte im Vorbeischippern elf Oscars und räumte gleichermaßen alle der Menschheit bekannten Kino-Rekorde sowie die vermeintlich hochkarätige Konkurrenz nach Belieben aus dem Weg. Independence Day, Der König der Löwen, E.T. und schließlich die All-Time-Champs Jurassic Park und Krieg der Steme blieben auf der Strecke, als Titanic unaufhaltsam an der Milliarden-Dollar-Marke vorbeizog. Hollywood war erstaunt, Romantik war in: Nachdem die Studios bislang immer darauf vertraut hatten, ihre sündhaft teuren Filme auf ein jugendliches, männliches Publikum zuzuschneiden, um im Blockbusterhafen einzulaufen, entdeckte man mit einem Mal Frauen als neue Zielgruppe. Die anschließenden Erfolge von Stadt der Engel, Der Pferdeflüsterer und Eine Hochzeit zum Verlieben wirkten als Ausrufezeichen hinter dieser These so überzeugend, daß sogar Big-Budget-Spezialist Jerry Bruckheimer noch eine denkbar bekloppte – Lovestory zu den Klängen von Aerosmith in sein Armageddon-Spektakel zimmerte. Mit nachprüfbarem Erfolg. Dann kam der Sturz von Godzilla, und Hollywood wurde noch skeptischer: Fast ein Jahr lang penetrant und großkotzig beworben als größtes Ereignis, seitdem Amerika siegreich aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrte, verhallte der Schrei von Emmerichs langweiligem Gummimonster verhältnismäßig ungehört: 135 Millionen Dollar eingespielt in den USA bei 140 Millionen Dollar Herstellungskosten (plus etwa 100 Millionen Dollar Werbung), in Deutschland an der Goldenen Leinwand für drei Millionen Zuschauer vorbeigeschrammt – da mochten Emmerich und sein Partner Dean Devlin schönreden, was sie wollten: Dieser Saurier war nur ein Pussykätzchen. Als dann auch der sicherlich keinen Cent billigere Armageddon, das zweite designierte Umsatz-Schlachtschiff des US-Sommers, hinter den Erwartungen zurück blieb, gleichzeitig aber Unerwartetes wie Die Truman Show, Der Soldat James Ryan, Verrückt nach Mary und Dr. Dolittle große Kasse machte, konnte man den Angstschweiß der Hollywood-Gewaltigen beinhahe über den großen Teich riechen. Sprechen wir hier von Fubar? Darauf darf man wetten: Wenn nicht Panik der Grund dafür ist, daß Warner bei so reizvollen, aber teuren Projekten wie Ridley Scotts Vampir-Actionwumme I Am Legend mit Arnold Schwarzenegger oder Tim Burtons Superman Reborn mit Nicolas Cage aus Budgetbedenken den Stecker zog oder Disney Chris Columbus‘ Asimov-Verfilmung Bicentennial Man mit Robin Williams absagte, was bitte dann? Die Independents hätten in diesem verwirrten Film jahr, in dem alles auf den Kopf gestellt wurde, gut punkten können. Aber wenn der eine beste Film des Jahres – Boogie Nights – von Rechts wegen eigentlich aus dem letzten Jahr stammt (vom deutschen Verleih aber erst dieses Jahr lieblos auf den Markt gebracht wurde), und der zweite beste Film des Jahres Out Of Sight zwar aussieht wie eine unabhängige Produktion, talsachlich aber bei einem Major (Universal) gemacht wurde, dann sagt das einiges über den Zustand der Unangepaßten aus. Velvet Goldmine und der Festivalfavorit Happiness (bei uns im Februar in den Kinos) mögen Ausnahmen der berühmten Regel sein, aber weitestgehend hatten die Indies in diesem Jahr alle Hände voll zu tun, nicht ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Das beste Beispiel war die Firma October, die sich erst vor zwei Jahren von UniversaJ als deren Independent-Arm kaufen ließ und jetzt erstmals daran erinnert wurde, daß sie sich auf einen Mephisto-Deal eingelassen haben könnte: Ais Universal-Executives besagten Happiness, eine giftige schwarze Komödie, die es sich in einer ihrer Episoden unter anderem erlaubt, einen Kinderschänder in einem sympathischen Licht zu zeichnen, sahen, untersagten sie sofort die Veröffentlichung. Hätten die I’roduzenten das Meisterwerk von Todd Solondz nicht zurückgekauft und in die Kinos gebracht, die Amerikaner wären um ein echtes Erlebnis gebracht worden. Fragt sich nur, wann solche Vorkommnisse im zunehmend puritanischen Amerika zur Tagesordnung werden – oder wie sehr die Indies die Schere im Kopf bereits verinnerlicht haben. Robert Altmans Kampf mit Polygram um die Schnittfassung von Cingerbread Man (beide Versionen waren miserabel) oder Tony Kayes Ringen mit New Line Cinema um sein brisantes Skinhead-Drama American History X legen letztere Theorie nahe. Zumindest bei K.iye ist es nur zu deutlich, daß seine Niederlage dem Film nicht gut getan hat: Explosiv die Story, brillant die Leistung von Hauptdarsteller Edward Norton, aber in dem konventionellen Schnitt von New Line versinken sie geradezu. Quo vadis, lndependentkino? Hoffentlich nicht in den Orkus: Wenn Oldies wie Spielberg, Nichols oder Weir mehr Mumm in den Knochen haben als die Jugend, dann gute Nacht!

Immerhin muß man den deutschen Film noch nicht abhaken. Zwischen einem trüben Jahresbeginn mit Der Campus, Frauen lügen nicht, Zwei Männer-Zwei Frauen oder wie die Verbrechen am Zelluloid alle hießen und dem traurigen Gurkentrio zum Jahresabschluß (Der Eisbär, Kai Rabe gegen die Vatikankiller, Liebe deine Nächste) gaben immerhin drei Highlights Hoffnung für die Zukunft: Lola rennt von Tom Tykwer explodierte mit einer Lust in alle erdenklichen Richtungen, als sei gerade jemand dabei, das Kino neu zu erfinden, Hans Christian Schmids 23 (siehe Besprechung auf Seite 90) riß das Publikum des Münchner Filmfests zu Begeisterungsstürmen hin und kommt in diesem Monat endlich in die Kinos, und Doris Dörries Bin ich schön? gefiel mit seiner mutigen Struktur und vor allem brillanten Dialogen, auch wenn nicht alle Vignetten der Handlung unbedingt meisterlich waren. Worauf darf man im nächsten Jahr hoffen? Aimee und Jaguar sieht gut aus, Sönke Wortmann könnte mit St. Pauli Nacht sein Comeback landen, Schlaraffenland und Straight Shooter führen den deutschen Film in Actiongefilde, Undertaker’s Paradise soll als schwarze Komödie punkten, und Der große Bagarozy von Bernd Eichinger verspricht großes Kino, auch wenn Til Schweiger nicht gerade die Idealbesetzung für den Teufel ist (wenigstens führt er nicht Regie). Die schönste Geschichte eines turbulenten Jahres zum Schluß: Nach mehr als 15 Monaten Drehzeit und einigen Monaten Arbeit am Schnitt beorderte Stanley Kubrick die Stars seines Erotikdramas Eyes Wide Shut, Tom Cruise und Nicole Kidman, zurück nach London, um einige Sequenzen nochmal zu drehen (weil Nebendarstellerin Jennifer Jason Leigh andere Verpflichtungen hatte, wurde statt ihrer eine andere engagiert und alle ihre Szenen neu gedreht). Als Starttermin für diese unendliche Geschichte steht derzeit Juli 1999. Ungewiß ist, ob Kubrick, der seit Füll Metal Jacket vor elf Jahren keinen Film mehr gemacht hat, sich daran hält. Wer sich also wundert, warum man Tom Cruise länger nicht mehr im Kino gesehen hat, weiß jetzt die Antwort. Kubricks Kollege Terrence Malick hat seit 20 Jahren keinen Film mehr gedreht: Er kehrt im Februar mit dem Kriegsdrama TheThin Red Line zurück. Gut, daß es die beiden gibt: Sie repräsentieren in unserer Zeit derTestscreenings und Marketingstrategien eine aussterbende Spezies: den Filmemacher mit Vision, Herz und Verstand, exzentrisch vielleicht, aber immer echt.