Gedanken zum Gegenwärtig*innen

Clic Clic Pan Pan: Was Julia Friese über Hammerschläge, Mütter, Europa und Jahresrückblicke sagt


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 22, in der Julia Friese die Wandlung von erhöhter Reizbarkeit zur Tanzbarkeit erklärt.

Drei Beobachtungen:

1. to be beat up/zerschossen sein

Bald wird überall zurückgeblickt auf das Jahr und seine Trends. In der Musik ist es wahrscheinlich die Tanzbarkeit, oder besser die Wandlung von erhöhter Reizbarkeit zu Tanzbarkeit. Denn der Puls des Jahres ist hoch: Auf Björks FOSSORA werden Gabber-Beats abgefeuert. Beyoncé hat ein House-Album gemacht, dessen Hit-Single „Break My Soul“ mit Schüssen beginnt. Die Fragilität von Rosalías „Hentai“ wird von einem Maschinengewehr-Sample durchbrochen, und in Kendrick Lamars „United In Grief“ erklingt ein Schrei, bevor der Beat auf die Hörenden schießt, während Yanns in Frankreich mit seinem 2021er Hit „Clic Clic Pan Pan“ das Schießen auch 2022 onomatopoetisch aus dem Radio singt.

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Es ist, als wollten die Künstler*innen ihr zu stark feuerndes Nervensystem – ihren Stress – in Gewehr-Samples und Schuss-Beats ausagieren. Allzu oft wird im Zusammenhang mit neuen Alben erwähnt, dass der*die Künstler*in dem domestizierenden Element der Pandemie Tanzbarkeit entgegenhalten wolle. Drake machte 2022 House. Muff Potter kamen zurück, sangen: „Hammerschläge, Hinterköpfe“.

2. my muttersprache cares for arbeit

Eine der Vokabeln, die 2022 häufiger fiel, war „Mutter“. Björk singt auf FOSSORA ein Requiem für ihre verstorbene Mutter, und lässt ihre Tochter Zeilen über Björk als Mutter schreiben. Im Kino spielt Anke Engelke die Hauptrolle in einem Film namens „Mutter“. Daniela Dröschers Bestseller „Lügen über meine Mutter“ beschäftigte sich mit dem Körperbild ihrer Mutter, und Judith Holofernes veröffentlichte bei KiWi eine Blog-Texte-Sammlung, in der sie offenbart, wie „uncool“ sie ihren Mutterkörper im Pop-Geschäft der frühen 2000er-Jahre empfinden musste.

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Gün Tank schrieb in „Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter“ (Suhrkamp) über sogenannte Gastarbeiterinnen, und die Verfasserin dieser Zeilen veröffentlichte im Wallstein Verlag mit „MTTR“ einen Roman im Stakkato, der eine Mutterwerdung erzählt, die in einem Büro beginnt und in einem Büro endet. Exemplarische Figuren agieren als Sprachausgabe ihrer Erziehung. Welche Werte wurden da in sie hinein erzogen, und zu welchem Zweck? „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht / Sozial ist, was Arbeit schafft“, singen Muff Potter in „Hammerschläge, Hinterköpfe“.

Broilers nehmen AfD-Politikerin Alice Weidel aufs Korn

Nikolas Lelle erklärt in „Arbeit, Dienst und Führung“ wie und warum die Nationalsozialisten das deutsche Selbstbild einer fleißig arbeitenden Nation prägten. Während man zeitgleich immer wieder Texte wie: „Hamburger Chef nimmt keine jungen Leute mehr: ,Müssen nach 6 Stunden zum Yoga‘“ (18.06.22, 24hamburg.de) lesen kann. Texte, in denen sich ältere Menschen darüber wundern, dass die Gen Z Arbeit nicht als ihren Lebensinhalt sieht. Wächst sich die Erziehung zu Disziplin und Fleiß etwa langsam aus? Steht das Z in Gen Z vielleicht für Zärtlichkeit?

3. alles ist so zynisch

Im Iran werden Gen-Z-Teenagerinnen getötet, weil sie für ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auf die Straße gehen, während in der EU zwei weitere Länder von Rechts-außen-Parteien regiert werden, und die AfD einen Umfragenzuwachs verzeichnet. Rammstein widmeten der „Partei der Hoffnungslosen“ 2022 den Song „Armee der Tristen“. Nora Burgard-Arp veröffentlichte mit „Wir doch nicht“ (Katapult Verlag) einen dystopischen Roman darüber, was passieren würde, würde das AfD-Programm eines Tages Wirklichkeit, während in den USA Frauen wieder für ihr Recht auf Abtreibung auf die Straße gehen müssen, und in Europa Menschen in einem territorialen Krieg ermordet werden. Die Nerven agieren ihre Wohlstands-verwöhnte Verwunderung darüber in einem Song namens „Europa“ aus. „Alles ist so zyklisch“, sangen Tocotronic schon 2015. Vermutlich wird auch das nächste Jahr wieder mit Jahresrückblicken enden.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 12/2022.