„Tiger King“-Kritik

„Großkatzen und ihre Raubtiere“ auf Netflix: Wie „Making A Murderer“ im Zoo


Die Bösen und Dummen, das sind die anderen: In der unglaublichen True-Crime-Gaga-Doku „Großkatzen und ihre Raubtiere“, die alle nur „Tiger King“ nennen, geht es um eine Handvoll rivalisierender Tierparkbetreiber*innen, die nur an ihr Ego, nicht an ihre Tiger denken. Ihre Backstorys? Kann man sich nicht ausdenken.

Seinen Künstlernamen trägt Joseph Schreibvogel (ja, das ist der bürgerliche Name), der heute Joseph Maldonado-Passage heißt, nicht von ungefähr: Joe Exotic, wie er sich nennt, ist Tierparkbetreiber in Oklahoma und selbsternannter „Tiger King“. In seinen Gehegen hausen nicht irgendwelche Tiere, die man im zentralen Süden der USA auch in freier Natur aufspüren könnte, sondern Tiger und andere „Big Cats“, große Raubkatzen. Als ob das nicht schon exotisch genug wäre, ist der nie um einen Witz verlegene Joe auf der einen Seite zwar ein waschechter Redneck und Waffennarr, der zur Selbstinszenierung selbst vor Countrymusikvideos nicht Halt macht. Auf der anderen Seite aber ist er sehr offen schwul, trägt blondierte Vokuhila und pinke Glitzerhemden, heiratet methsüchtige Twentysomethings, will Governeur werden und führt eine öffentliche Fehde mit Carole Baskin. Die wiederum sollte ihm noch zum Verhängnis werden; von all dem erzählt die Netflix-Miniserie „Großkatzen und ihre Raubtiere“ auf hanebüchene Art und Weise. Leider ist die Geschichte aber wahr.

https://www.youtube.com/watch?v=JUOZUu0t2CA

Der Greater Wynnewood Exotic Animal Park ist nicht nur ein Sammelbecken für die größte Anzahl gezüchteter Tiger in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch eines für sogenannte Misfits: Betreiber Joe Exotic, dieser an eine Parodie grenzende Möchtegern-Paradiesvogel, stellt als Tierpfleger*innen nicht etwa die besten oder zumindest nicht unerfahrensten ein, sondern die bedürftigsten. Menschen, die vom Leben so ins Abseits befördert wurden, dass sie gar keine andere Wahl haben als einen Job zu jeden Bedingungen anzunehmen – und ihrem neuen Chef, der es sicherlich nicht immer schlecht meint, nicht zu widersprechen. Junkies, Kleinkriminelle, zahnlose Tätowierte – sie alle finden bei Exotic eine neue Chance und neue Freunde oder gar Sexualpartner. Eine verliert sogar einen Arm und bleibt ihm trotzdem treu, wo soll sie auch sonst hin. Exotic ist stolz darauf, einer der profiliertesten, weil umtriebigsten und expandierendsten Tigerzüchter des Landes zu sein. Ein „Tiger King“ eben, zumal mit Abgründen, weshalb der US-Originaltitel der Doku „Tiger King: Murder, Mayhem and Madness“ auch der viel passgenauere als der deutsche ist. Die Bilder, die wir hier zu sehen kriegen, gibt es, weil Exotic sich selbst über Jahre hinweg filmen ließ. Er wollte einen Doku über sich. Jetzt hat er sie – nur anders, als gedacht.

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Alle sind „full of shit“, wie sie selbst nicht müde werden sich vorzuwerfen

Dass es ihm genau so wenig wie seiner Erzfeindin Carole Baskin um die Tiere und ihr Wohl geht, merkt der Narzisst lange Zeit nicht: Baskin, die selbst nicht sauber ist, betreibt in Florida das Unternehmen „Big Cat Rescue“, wirft Joe Exotic unlauteren Wettbewerb, Tierquälerei und andere kriminelle Machenschaften vor. Mit seinem Vorwurf  ihr gegenüber wird „Großkatzen und ihre Raubtiere“ vollends aberwitzig und verstörend zugleich: Baskin soll ihren verschwundenen Ehemann, einen Millionär, umgebracht haben, um an sein Erbe zu kommen. Verbuddelt, an Tiger verfüttert, sein Privatflugzeug zum Absturz gebracht, wer weiß das schon. Verdachtsmomente gibt es dafür neben der Erbschaft durchaus: Die einstige Sekretärin des Millionärs etwa berichtet, sein Testament sei eines nachts gestohlen worden und ergänzt um den sehr unüblichen Passus, dass das Erbe auch im Falle des Verschwindens an sein Frau ginge, wieder aufgetaucht. Beweise aber gibt es keine.

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„Großkatzen und ihre Raubtiere“ funktioniert nicht nur dank Plots und Charakterentwicklungen, die man sich nicht ausdenken kann, sondern vor allem durch einen gewissen Voyeurismus. Zuschauer*innen tauchen hier in eine Parallelwelt ein, über die man nichts als Kopfschütteln, oft aber auch echte Lacher übrig haben kann. Die Gestalten in Wynnewood und der „Big Cat“-Branche, die in der siebenteiligen Doku zu Wort kommen, sind so kaputt, so abgehalftert, so fragwürdig, teilweise so, ja, dumm und gleichzeitig so sehr von sich und der Richtigkeit ihres geschäftlichen und menschlichen Tuns überzeugt, dass man neben Mitleid fast Neid verspüren könnte, wie zufrieden einige von ihnen mit sich selbst sind. Aber sie sind mitunter auch gefährlich.

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Im Grunde ist „Großkatzen und ihre Raubtiere“ wie „Making A Murderer“ im Zoo: eine True-Crime-Doku über Menschen am Rande der Gesellschaft (manche stehen hier aber auch mittendrin), bei der man auch am Ende nicht so richtig weiß, welche dieser traurigen Gestalten wirklich wie viel Dreck am Stecken hat, was denn nun mit wem wirklich geschah, weil wir nur sehen und erfahren, was die Protagonisten in die Kamera sagen. Wenn Joe Exotic aber mehrfach betont, er wünsche seiner Rivalin den Tod und gar Mordpläne ausspricht und dafür mittlerweile im Gefängnis sitzt, ahnt man: Sie haben eh schon alle mehr gesagt, als sie sollten.

Den Tieren ist mit all dem „He said, she said“ ohnehin nicht geholfen: Es leben in den USA noch immer mehr Tiger in Käfigen und „Parks“, als weltweit in der freien Wildnis.

„Großkatzen und ihre Raubtiere“ (Originaltitel: „Tiger King: Murder, Mayhem and Madness“), 7 Folgen, seit 20. März auf Netflix im Stream verfügbar

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Diese Serienkritik wurde ursprünglich am 26. März 2020 auf musikexpress.de veröffentlicht.