Kritik

„Making A Murderer“: Warum Staffel 1 für Staffel 2 zum Problem geworden ist


Die neuen Episoden im Fall Avery haben eine Schwäche: Kein Antagonist traut sich mehr vor die Kamera.

Seit dem 19. Oktober 2018 läuft die zweite Staffel „Making A Murderer“ auf Netflix. In zehn neuen, je knapp einstündigen Folgen der True-Crime-Serie wird der echte Fall des Steven Avery und seines Neffen Brendan Dassey weiter aufgerollt. Beide Männer wurden beschuldigt, im Jahr 2005 die Fotografin Teresa Halbach vergewaltigt, ermordet und ihre Leiche verbrannt zu haben. Beide sind möglicherweise unschuldig. Wer die 1. Staffel gesehen oder Medienberichte verfolgt hat, weiß: 2007 wurden sie zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzen seitdem im Gefängnis.

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Die 1. Staffel sorgte nicht nur deshalb für Schlagzeilen, weil die Macherinnen Moira Demos und Laura Ricciardi bisweilen unglaubliche Schlampereien in der Polizeiarbeit am mutmaßlichen Tatort dokumentierten und minutiös den Verdacht nahelegten, dass Avery als Sündenbock für eine Tat herhalten soll, die er nicht begangen hat. Die Netflix-Doku schrieb den Fall sogar aktiv weiter. Seit der Erstausstrahlung im Dezember 2015 sind nicht nur der Hauptverdächtige Avery, sondern auch dessen damalige Anwälte Jerry Buting und Dean Strang zu Popstars avanciert, tausende Hobbyermittler übertreffen sich seitdem mit eigenen Rechercheversuchen, Spekulationen und Tatverdächtigungen. Avery bekommt Liebesbriefe und verliebt sich in Frauen, die bloß ins Fernsehen wollen (und dies sogar vor laufender Kamera zugeben). Der Anwalt Ken Kratz hingegen, der damals mit sehr fragwürdigen Mitteln und schließlich erfolgreich gegen Avery und Dassey klagte, muss seitdem mit öffentlichen Anfeindungen leben.

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Und hier beginnt ein Grundproblem von Staffel 2: Figuren wie Kratz, mit ihren verschiedenen, mitunter undurchschaubaren Interessen, sowie Averys Vergangenheit als schon einmal nachweislich unschuldig Inhaftierter waren es, die Staffel 1 so unglaublich und spannend machten. Staffel 2 hat, vom Ende der 1. Staffel ausgehend, nun nicht viel grundlegend Neues zu erzählen: Avery und Dassey sitzen noch immer hinter Gittern, ihre Schuld oder Unschuld aber ist noch immer nicht endgültig bewiesen.

Dies wird logischerweise auch am Ende von Staffel 2 nicht anders sein. Charaktere wie Klägeranwalt Kratz, der Polizeichef, der möglicherweise Beweise gefälscht hat, die Ermittler, die Brendan Dassey bei seinem Geständnis Täterwissen eingeredet haben, Halbachs Ex-Freund, der nie nach einem Alibi gefragt wurde, kurzum: jeder, der in Staffel 1 nicht gut wegkommt, hat seine Teilnahme an Staffel 2 abgesagt oder auf die Anfragen von Demos und Ricciardi gar nicht erst reagiert. Menschlich und juristisch ist das nachvollziehbar – den Zuschauern fehlen so aber mutmaßliche Antagonisten, die ihrerseits die Geschichte aktiv weitererzählen würden. Immerhin: Kratz gab in der Zwischenzeit TV-Interviews, die jetzt als Füllmaterial helfen.

Aufgefangen wird dieser Mangel an Dramaturgie nicht durch all die Infotafeln, die die juristischen Abläufe seit 2007 raffen sollen, sondern durch eine neue, sehr zentrale Figur: Kathleen Zellner. In der ersten Folge der 2. Staffel „Making A Murderer“ geht es darum, wie diverse Pflichtverteidiger Avery nicht helfen können und wie die erfolgreiche, unkonventionelle (und twitternde) Staranwältin schließlich das Mandat übernimmt. Mit ihr keimt neue Hoffnung in Avery und dessen Unterstützern auf: Zellner hat bisher für jeden ihrer Mandanten einen Freispruch erreicht oder ihm ein Geständnis nahegelegt.

„Ich weiß, wer Teresa Halbach wirklich umgebracht hat“

Auch bei Avery legt sie sich fest: „Jemand, der schuldig ist, wäre blöd, mich zu engagieren“ und „Steven Avery ist unschuldig, da bin ich mir sicher.“ Ihr Geheimtipp, um für einen Beschuldigten von der Jury einen Freispruch zu erreichen? „To raise doubt and point to other suspects“, also „Zweifel (an der Täterschaft des Angeklagten) aufkommen lassen und andere Verdächtige ins Spiel bringen.“ Diesen Plan verfolgt Zellner tatsächlich mit Bravour: Im Verlauf der 2. Staffel zerlegt sie mithilfe von Forensik-, DNA- und Brandexperten die Beweise von Kratz in ihre Einzelteile, unterzieht Avery einem neuartigen Lügendetektor-Test und brilliert oder blendet (je nach Sichtweise) mit Behauptungen wie der hier, die ihre Twitter-Follower längst kennen: „Ich weiß, wer Teresa Halbach wirklich umgebracht hat“. Auch, wenn ihre Hauptaufgabe darin besteht, Averys Unschuld zu beweisen. Den oder die wahren Täter zu finden, sei Aufgabe des Staats.

Und Brendan Dassey? Der sollte 2016 aus der Haft entlassen werden, nachdem entschieden wurde, dass sein Geständnis tatsächlich durch unlautere Verhörmethoden erzwungen wurde. Andere Gerichte (und Unterstützer, Familie und Freunde des Opfers Teresa Halbach) gingen gegen dieses Urteil vor – mit Erfolg: Dassey ist noch immer nicht auf freiem Fuß.

https://twitter.com/zellnerlaw/status/1044923199002169345

https://twitter.com/ZellnerLaw/status/860649053054435332

„Making A Murderer“: Was in Staffel 1 geschah

Eine kurze Zusammenfassung der Handlung von „Making A Murderer“, Staffel 1: Im Jahr 1985 wurde der damals 23-jährige Automechaniker Steven Avery aus Manitowoc County, Wisconsin, trotz dünner Beweislage wegen sexuellen Missbrauchs zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. DNA-Analysen bewiesen später, was der Angeklagte selbst stets beteuerte: Avery war unschuldig.

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2003, wieder in Freiheit, verklagte er seinen Bezirk auf über 36 Millionen US-Dollar und war deshalb fortan der ansässigen Exekutive offenbar ein Dorn im Auge. 2005 nämlich, zwei Jahre nach Averys Freilassung, verschwand die Fotografin Teresa Halbach. Steven Avery war die mutmaßlich letzte Person, mit der sie vor ihrem Tod Kontakt hatte. Ihre sterblichen Überreste wurden Wochen später auf seinem Grundstück gefunden, und damit viele weitere vermeintliche Beweise dafür, dass Avery Halbach vergewaltigt und umgebracht haben soll. Ein neuer Prozess gegen Steven Avery, der erneut seine Unschuld beteuerte, begann. Eine Jury entschied schließlich, dass Avery schuldig ist, seit 2007 sitzt der Mann erneut im Gefängnis. Petitionen machen sich für eine Begnadigung stark. Die ohnehin schon unglaubliche Geschichte aber wurde immer unglaublicher, je mehr Menschen sich nach der Ausstrahlung von „Making A Murderer“ zu Wort meldeten. Auch wenn die Doku über einen Zeitraum von zehn Jahren gedreht wurde und den Fall bis ins Jahr 2015 erzählte, war schon wenige Wochen nach Serienstart genug Stoff für ein Sequel vorhanden.

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