Reflektor

Hammergeil: Wie Konstantin Lifschitz Jan Müllers Liebe zur Musik rettete


Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die 26. Folge seiner Kolumne, in der er davon erzählt, wie er fast seine musikalische Euphorie verloren hätte.

Vor einigen Wochen verlor ich den Bezug zur Musik. Alles, was ich hörte, kam mir nur noch abgeschmackt vor, oder wie bloßes Geplärre. Ein Freund schickte mir begeistert ein neues Album einer tollen Künstlerin. Ich hatte einfach kein Lust mehr. Und ich fühlte es nicht mehr. Zu viel Musik kann die Begeisterung für Musik manchmal auch ersticken. Mein Verlust ließ mich nicht kalt. Es machte mir Angst. Ich hatte sogar Angst, dass es nun vielleicht sogar für immer vorbei ist mit meiner musikalischen Begeisterung und Euphorie.

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Eine Begegnung mit der klassischen Musik war dann die Heilung. Diejenigen unter euch, die Tocotronic kennen, mögen nun aus vielerlei Gründen glauben, dass mein Bezug zur E-Musik eher im Bereich der Neuen Musik zu finden ist: John Cage, Morton Feldman, György Ligeti, Luigi Nono. Eben dieses ganze geile avantgardistische Zeug. Was mich rettete, war aber ausgerechnet Beethoven. Der alte „Ludwig van“! Ich habe ganz und gar nichts gegen seine Musik. Allerdings hatte sie mich bis dato niemals wirklich interessiert.

Hammerschwer zu kapieren und wirklich hammergeil, wenn man sich darauf einlässt

Glückliche Umstände brachten mich in die Berliner Philharmonie. Der Pianist Konstantin Lifschitz spielte im Kammermusiksaal Beethoven Klaviersonaten. Wie wundervoll das war! Für mich ausschlaggebend war das, was Lifschitz zum Schluss zu Gehör brachte: Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106. Diese Sonate wird im Allgemeinen als Hammerklaviersonate bezeichnet. Sie heißt meiner Meinung nach so, weil sie hammerschwer zu spielen ist, hammerschwer zu kapieren und wirklich hammergeil, wenn man sich darauf einlässt.

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Beethoven und Lifschitz schafften es im Handumdrehen, mich zu heilen. Ich blickte auf die Tasten des Flügels und meine Gedanken schwebten davon. All die differenzierten Stimmungen dieses tollen Stücks drangen in meine Synapsen. Kaum zu erfassen, wie viel Angst, Leid, Panik, aber auch Freude in dem Werk zu finden ist. Ich machte die Augen zu und war plötzlich wieder im Jahr 1986 auf einem Konzert meiner Jugend: EA80 und Razzia im Ahoi in der Hamburger Hafenstraße. Es war ungelogen so voll, dass man die Füße hochheben konnte, ohne umzufallen. Die Musik machte das Gedränge und Gequetsche zur Freude. „Es ist stickig und unbequem / man kann nicht viel sehn / sie nennen es Matatu / einfach nur Matatu.“

Die Musik ist der Zündschlüssel für die Zeitmaschine in unserem Kopf

Lifschitz spielte und die Gedanken schwebten im Klang zwei Jahre voran. Wieder Hafenstraße, zwei Häuser weiter im Störtebecker, wo Fugazi eine Secret-Show spielen. Die bestiefelten Bauwagenpunks machen sich einen Spaß daraus, Ian MacKaye und Guy Picciotto mit Bierflaschen auf die Chucks zu hauen. Ich fliege weiter in die Hamburger Markthalle: Dinosaur Jr. Wände aus Lärm und Melodien. Zwischen den Songs Krach vom Band. Keine Ansagen. Ich erinnere mich an Festivals mit meiner Band. Wir fühlten uns als Fremdkörper. Vermutlich waren wir in guter Gesellschaft. Denn eigentlich ist auf diesen Veranstaltungen auch die Musik selbst ein Fremdkörper. Sie wird in die Ecke gedrängt von dem Geruch der Würstchenbuden, von der Sportanimation in den Shows und vom hemmungslosen Alkohol- und Substanzmissbrauch der Anwesenden. Obwohl zumindest ja der Rausch der Musik auch zuträglich sein kann.

HipHop trifft in „DopeClass“ auf Klassik-Samples

Ich erinnere mich an eine Vergiftung im Jahr 2002 während einer Party in der Hamburger Tanzhalle. Der Kompakt-Act Schaeben und Voss krempelte mein Gehirn komplett um. Schließlich erinnere mich an unsere erste Fahrt mit Tocotronic nach Österreich. Dirk, Arne und ich sitzen im geliehenen Polo unseres Plattenbosses Carol und wir hören eine wilde Mischung aus Bikini Kill, Prodigy und Funny van Dannen. Die Sonne bricht sich an den Bergkanten. Ich habe einen leichten Kater, aber ich fühle mich unverwundbar. Jetzt geht es los!

Ist das Klassik? Romantik oder ist das schon neue Musik?

Die Musik ist der Zündschlüssel für die Zeitmaschine in unserem Kopf. Sie schafft es, uns aus Raum und Zeit zu katapultieren. Mit dem Ende des Konzerts in der Philharmonie war ich wieder im Hier und Jetzt. Applaus erklingt. Alle haben so recht. Einige Zeit noch bin ich verunsichert. Ich höre mir in den nächsten Tagen einige Einspielungen der Hammerklaviersonate an. Das ist wirklich bemerkenswert. Ist das Klassik? Romantik? Oder ist das schon neue Musik? Am besten gefällt mir übrigens die Mono-Einspielung von Solomon aus dem Jahr 1952. Das ist meine Empfehlung an euch als E-Musik-Amateur.

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Einige Tage denke ich noch: Wie unterkomplex ist all das, was ich ansonsten gerne höre! Und auch die Musik meiner eigenen Band erscheint mir plötzlich erschreckend profan. Glücklicherweise verschwindet dieses Gefühl mit der nächsten Bandprobe. Ich trete auf den Big Muff, spüre den Lärm und blicke in die lächelnden Gesichter meiner Bandkollegen. Musik ist kein Wettbewerb. Sie ergänzt einander und muss sich nicht verdrängen. Wie gut.

Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 04/2023.