Kevin Coyne


Spätestens seit Woodstock spricht man der Rockmusik eine gewisse politische Bedeutung nicht mehr ab. Sie gilt als alternativ, als Sprachrohr einer ganzen Generation und dient vielen gar als Lebensauffassung. Dennoch ist es kein Geheimnis, daß der Großteil der Hoffnungen und Sehnsüchte, die man Anfang der 60er Jahre zu Beginn dieser Ära in die Musik hineinlegte, oder besser: hineinbetete, nicht erfüllt wurde – daß sie sich als Sturm im Wasserglas erwiesen, als leere Seifenblasen oder was auch immer.

Der letzte Rest, der uns von dieser, einst als revolutionär verschrieenen, Musikgattung erhalten blieb, ist eher dürftig. Nur ganz wenigen Interpreten liegt an einer „Botschaft“ oder Aussage, sei sie nun politischer oder persönlicher Natur. Die Vergangenheit bewies nur allzu deutlich, daß ohne sie nicht nur besser voranzukommen, sondern eben auch wesentlich mehr Kohle zu holen ist. Und bei diesen Auswahlmöglichkeiten liegt die Entscheidung ja auf der Hand. Schließlich ist Rockmusik Unterhaltungsmusik, was will man mehr…

Die Songs

Aber Gott sei dank gibt es einige, denen es um mehr geht. Denen es immer um mehr gegangen ist. Einer von ihnen ist Kevin Coyne, ein desillusionierter Sozialarbeiter, der so viel erlebt und mitgemacht hat, daß er weiß, worüber er in seinen Songs spricht. Jedes seiner Stücke ist ihm wert, auf Platte gepreßt zu werden: „Für mich ist das wichtigste, jeden meiner Songs aufzunehmen. Ich habe Angst, sie sonst zu vergessen.“ Obwohl er so gut wie unbekannt ist, teilt diese Ansicht auch seine Plattenfirma, die als erstes gleich ein Doppelalbum von ihm veröffentlichte, dessen Erfolgsaussichten genaugenommen gleich Null waren.

„Wir müssen es schaffen“

Seit „Marjory Razor Blade“ , dieses erste Doppelalbum, auf den Markt kam, sind über drei Jahre vergangen, ohne daß sich Kevin’s Situation wesentlich verändert hätte. Regelmäßig erscheinen neue LP’s von ihm und genau so regelmäßig geht er auf Tourneen, und trotzdem ist er heute so unbekannt (und unbequem) wie damals. Seine Zuversicht ist ungebrochen: „Wir werden es schaffen. Wir müssen es schaffen, denn wir bringen Realität und die Menschlichkeit in die Rockmusik,“ verkündet er mit einem Seitenblick auf seine beiden Kollegen Roy Harper und John Martyn, die mit fast denselben Problemen zu kämpfen haben wie er.

Der Sozialarbeiter

Kevin’s anspruchsvolle, realistische Texte sind Geschichten, die er ohne Ausnahme selbst erlebt oder beobachtet hat. Sie sind wahr und authentisch, und genauso interpretiert er sie musikalisch. Was für ihn vor vielen Jahren mit der Arbeit in einer psychiatrischen Klinik begann, setzt sich heute konsequent in seinem Musikertum fort. Das Verlangen, helfen zu wollen, der Drang, bestehende Situationen zu verändern, treibt ihn vorwärts. Selbst als er sich vor vier Jahren endgültig für eine Musikerlaufbahn entschied,blieb er trotz Business und der diesbezüglichen Verpflichtungen weitere drei Jahre „nebenher“ seinem Dienst als Sozialarbeiter treu. Erst 1972 gab er den Posten auf, enttäuscht und ernüchtert, wie er heute zugibt. Die Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit seiner Tätigkeit hinterließen mehr und mehr Zweifel und Resignation, so daß er beschloß, es künftig mit musikalischen Mitteln zu versuchen. Ein Schritt zurück, von dem er sich aber zwei nach vorne erhoffte.

Die Konzerte

Eine englische Zeitung verkündete stolz in einer Überschrift: „Keiner schläft in seinen Shows.“ Und gemeint sind natürlich Kevin’s Shows. Besonders in seiner britischen Heimat, wo man seine Sprache versteht und den Background seiner Geschichten kennt, rüttelt er das Publikum jedesmal auf, verwirrt es und konfrontiert es mit: Problemen, über die es eigentlich nicht nachzudenken pflegt; nicht vom glänzenden Popstar-Thron herab, sondern in ihrer Art zu sprechen, hautnah und engagiert. Seine jetzige Band unterstützt ihn dabei so gut es geht. Sii befürwortet, was er tut, sie steh hinter ihm und versteht ihn: Die Stimmungen der einzelnen Stücke passen sich den Texten völlig an.

Der Anti-Star?

Obwohl Kevin daran gelegeist, ein größeres Potential an Hörern zu gewinnen, geht er keine Kompromisse ein. Von den Platten, die er mit der Gruppe Siren vor Jahren einspielte, über sein (reines) Solo-Album „Case History“ (72) bis zu „Marjory Razor Blade“, „Blame It On The Night“, „Matching Head And Feat“ und dem gerade erschienenen „Heartburn“ ziehen sich seine mitreißenden Songtexte wie ein roter Faden durch seine Arbeit. „Ich will nicht länger die Kultfigur einer kleinen eingeschworenen Gemeinde sein. Ich wäre sehr wohl damit einverstanden, daß langsam etwas mehr passieren würde, daraus mache ich gar keinen Hehl, aber an einer typischen ,Rock-Personality‘ habe ich bei Gott kein Interesse“‚ Kevins konsequente Standhaftigkeit seinen Platten gegenüber ist nur mit der Sicherheit und Spontaneität zu vergleichen, mit denen er seinen Zuhörern in Konzerten begegnet. Zwischenrufer werden auf die Bühne geholt, ein Frage und Antwort-Spiel ist nicht ungewöhnlich, und auch Diskussionen sind keine Seltenheit. Der Sozialarbeiter steckt eben noch immer in ihm.

Joe Cockers Background

Coyne wurde oft mit Sängern wie Van Morrison, Cpt. Beefheart oder Joe Cocker verglichen. Er läßt sie zwar gelten, bemerkt aber dazu, daß keiner der drei renommierten Herren je einen stilprägenden Einfluß auf ihn ausgeübt habe. Einzig Joe Cocker ist ihm einen Vergleich wert. Beide besitzen denselben Background von verrauchten, kleinen Kneipen, riesigen Mengen Bier, kurzlebigen Bands und lausiger Bezahlung, und beide standen von jeher auf Blues und Tanzhallen-Musik der späten 50er Jahre.

Jede von Kevins Platten gereicht der Rockmusik zur Ehre. Sie sind vieles von dem, was die frühen, idealistischen Stimmen der Rockmusik gerne zugesprochen hätten: in erster Linie rauh, ehrlich und direkt. Aber die Rockmusik ist ein Geschäft geworden. Sie hat bisher jede neue Form aufgesaugt und marktgerecht entschärft wieder ausgespuckt. Hoffen wir, daß Kevin davon verschont bleibt, selbst wenn die Chancen 5 zu 95 stehen – gegen ihn! Noch bewegt er sich in einem Bereich, in dem er gegebenenfalls mit einem entschiedenen „Nein“ die Konsequenzen ziehen und aussteigen kann. Ob das zwei Stufen weiter oben noch möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Die heutige Rockmusik jedenfalls hat so ehrliche und aussagekräftige Männer wie Kevin Coyne bitter nötig.