ME-History

Kraftwerk-Chef Ralf Hütter im Interview: „Ich höre die Stille und die Welt“


Aus dem ME 08/2017: Musikexpress-Redakteur Albert Koch wollte 1997 einmal ein Interview mit Kraftwerk-Chef Ralf Hütter haben – 20 Jahre später hatte er es bekommen.

Der lange Weg zu Kraftwerk

Seit dieser Zeit wurden Kraftwerk zu einem Fixpunkt in meiner musikalischen Welt. Ich erinnere mich gut an mein erstes Kraftwerk-Konzert 1981 in der Nähe von Nürnberg. Es fand ohne mich statt. Mein Freund, der mit dem DOPPELALBUM, und ich fuhren in seinem orangefarbenen VW-Käfer die damals noch weitgehend Autobahn-freien 120 Kilometer zu einem Veranstaltungsort in einem Kaff bei Nürnberg. Als wir dort ankamen, war der Laden geschlossen. Kein Hinweis auf eine Absage oder eine Verlegung des Konzerts.

Das Internet, liebe Kinder, war damals noch nicht erfunden. Mein erstes Kraftwerk-Konzert, das mit mir stattfand, war im Herbst 1991 im Circus Krone in München zur THE MIX-Tour. Ich ärgerte mich 1986 über den Verriss von ELECTRIC CAFE (heute: TECHNO POP) im Musikexpress, weil ich der Meinung war, dass Kraftwerk mit den Alben COMPUTERWELT und ELECTRIC CAFE wie nie vorher Musik zur Zeit gemacht hatten.

Kraftwerk – Retrospective 1 2 3 4 5 6 7 8, Tour de France

Ein Jahrzehnt später war ich selbst Redakteur bei Musikexpress. 1997 verdichteten sich die Gerüchte, dass „bald“ ein „neues Kraftwerk-Album“ veröffentlicht werden sollte. Zudem hatten Kraftwerk nach mehrjähriger Bühnenabstinenz für den Frühsommer einen Auftritt beim Tribal Gathering in Luton bei London angekündigt, einem gigantischen Rave, bei dem u.a. Daft Punk, Orbital, DJ Shadow und John Peel auftraten bzw. –legten. Ich sollte eine große Kraftwerk-Geschichte schreiben und fragte bei der Plattenfirma nach einem Interview mit Ralf Hütter. Seit der Veröffentlichung von THE MIX hatten Kraftwerk kaum bis keine Interviews mehr gegeben.

Mein Wunsch nach einem Gespräch wurde abgelehnt, Kraftwerk geben keine Interviews, hieß es. Ich ließ nicht locker und schrieb einen Brief (!) mit meinem Begehr, den ich an das Kling-Klang-Studio in Düsseldorf adressierte. Der Brief kam einige Tage später mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurück. Das Tribal Gathering war der Ort, an dem ich Ralf Hütter bis dahin am nächsten gekommen bin. Kraftwerk-Haus-Fotograf Peter Boettcher, der gleichzeitig mit mir im Hotel eincheckte, stand neben mir an der Rezeption. Da klingelte sein Handy, und Boettcher erklärte einem gewissen „Ralf“, dass er gerade angekommen sei.

Interviewanfragen? – Routine.

Von da an nutzte ich jeden Anlass, um ein Interview mit Kraftwerk anzufragen. Kraftwerk im Jahr 2002 mit AUTOBAHN auf Platz 1 der spektakulären Musikexpress-Liste „Die 100 besten deutschen Platten“. Abgelehnt. Danke, sie fühlen sich geehrt, aber geben keine Interviews. Ein Jahr später wurde das Album TOUR DE FRANCE veröffentlicht. Interview? Abgelehnt. 2009 erschien der remasterte KATALOG. Interview? Abgelehnt. Nach 16 Jahren stellte ich die routinemäßige Anfrage nach Interviews zu den verschiedenen Anlässen ein.

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Mit der Juni-Ausgabe veröffentlicht MUSIKEXPRESS ein besonderes Sammlerstück – eine exklusive Vinyl-7“-Single von Kraftwerk: „Heimcomputer“, neu abgemischt von Ralf Hütter.

Ich hatte mich für alle acht Konzerte im Januar 2015 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin akkreditiert. Da erreichte mich am Nachmittag vor dem vierten Konzert eine E-Mail aus dem Kraftwerk-Umfeld. Wenn ich heute nach dem Konzert Ralf Hütter sprechen wollte, müsste ich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort in der Nationalgalerie warten. Ich stand zum bestimmten Zeitpunkt am bestimmten Ort und wurde von einer Mitarbeiterin hinter die Bühne geführt, wo Ralf Hütter wartete.

Es war kein Interview, ich verzichtete darauf, ein Aufnahmegerät mitzubringen, es wäre mir sowieso am Einlass abgenommen worden. Es war eher ein vorsichtiges Herantasten, ein „lockerer Gedankenaustausch“, wie Hütter es nannte.

Man muss wissen, dass ich einmal ein Buch über Kraftwerk geschrieben habe, das damals in der Düsseldorfer Zentrale gar nicht gut angekommen ist. Ralf Hütter muss bei dem lockeren Gedankenaustausch gemerkt haben, dass ich ihm nichts Böses will und ich habe gemerkt, was ich längst geahnt hatte, dass er ein sehr zurückhaltender, fast schüchterner Mensch ist.

Dass dieser Mann für das Projekt Kraftwerk lebt, und dass es seine Entscheidung ist, wie er dieses Projekt führt und dass es unbedeutend ist, ob Kraftwerk an einem neuen Album arbeiten (Lieblingsfrage Nummer 1 aller Kraftwerk-Interessierten) und wann denn endlich die ersten drei Alben KRAFTWERK, KRAFTWERK 2 und RALF & FLORIAN wiederveröffentlicht werden (Lieblingsfrage Nummer 2 aller Kraftwerk-Interessierten).

Die Lieblingsfrage Nummer 3 aller Kraftwerk-Interessierten beantwortete mir Hütter erschöpfend: Was die denn eigentlich da oben hinter ihren Pulten machen? Ob das denn wirklich live sei. Ich traf Hütter dann noch einmal zwei Tage nach der ersten Begegnung zu einem weiteren „lockeren Gedankenaustausch“.

Kraftwerk waren daran schuld, dass ich mich in den 90er-Jahren für Minimal Techno und advanced electronics zu interessieren begann. Damals war die Dance Music plötzlich „intelligent“ geworden und Kraftwerk wurden seither als Techno-Erfinder gefeiert (bitte Afrika Bambaataa, Cybotron, Juan Atkins googlen), so oft, dass manche das nicht mehr hören können. Ich habe gemerkt, dass das ad nauseam repetierte Narrativ von den Techno-Beeinflussern kein Blödsinn ist, sondern dass sich Kraftwerk-Klänge in den Strukturen und Soundpatterns von tausenden Produktionen in über 30 Jahren Geschichte elektronischer Musik wiederfinden, als Samples und Zitate. Und wenn es wieder einmal so weit ist, wie jüngst auf dem Album DISTRACTIONS der britischen Künstlerin Ikonika, erschrecke ich kurz und denke, ah, ja, Kraftwerk.

Die Deutschen und Kraftwerk – Neverending Story

Autobahn - Kraftwerk (1974)
5. Autobahn (1974): Das Album, das den Weltruhm von Kraftwerk begründete. Der 23-minütige Titeltrack als Grundstein für alle Electro-Pop-Songs, die in den nächsten vier Jahrzehnten noch kommen werden.

Im Herbst 2014 sollte ich als deutscher Journalist in einem Gastbeitrag für das französische Elektronik-Magazin „Tsugi“ für eine umfangreiche Kraftwerk-Titelgeschichte der Frage nachgehen: „Wie deutsch sind Kraftwerk?“ Ich kam zu dem Schluss, dass das „Deutschsein“ und dessen Ironisierung, die Aufarbeitung des kulturellen Stillstands durch zwölf Jahre Nazidiktatur und die folgende kritiklose Annahme angloamerikanischer Kunstformen durch die ersten Nachkriegsgenerationen, bestimmende Faktoren in den Anfangstagen von Kraftwerk gewesen sind, dass sich Kraftwerk aber schon sehr schnell in den mittleren 70er-Jahren von der deutschen zur europäischen und schließlich zur internationalen Band entwickelt hatten.

Wie sie beinahe prophetisch auf dem 1976er Album TRANS EUROPA EXPRESS den Traum vom vereinten Europa träumten, der damals noch lange keine Realität war und der heute wieder ausgeträumt zu sein scheint, weil Europa sich zu einem rechtspopulistischen Trümmerhaufen zu entwickeln droht.

Antwerpen, Mai 2017. Kraftwerk spielen in der Stadt im noch endlosen Europa im Koningin Elisabethzaal an vier Tagen acht 3D-Konzerte, jeweils um 20 und um 22 Uhr, jedes ist einem Album von AUTOBAHN bis TOUR DE FRANCE gewidmet. Die Konzerte finden ein paar Tage vor der Veröffentlichung der Box 3-D DER KATALOG statt. Ich sehe die Konzerte für THE MAN MACHINE und COMPUTERWORLD. Nach dem zweiten Auftritt kurz nach Mitternacht werde ich hinter die Bühne geführt. In einem karg eingerichteten Raum wartet Ralf Hütter. Ich habe mein Aufnahmegerät dabei. Das Abenteuer beginnt.

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