Love in the Achterbahn


Er ist der Finne, der die Sauna meidet. Er ist der Heide, der Liebe als Religion betrachtet. Er ist der Biertrinker, der Eiswürfel bestellt. Ville Valo, der Mann voll scheinbarer Widersprüche, will mit HIM endlich auch außerhalb Europas punkten - und schreckt deshalb vor großen Worten nicht zurück.

Wir waren gewarnt: „scharf!“, so stand es auf der Speisekarte. „Diese Suppe sollte man in der Sauna servieren“, findet Ville Valo und wischt sich per Serviette den Schweiß von der Stirn. Wir sitzen beim Thai in Berlin-Kreuzberg, vor uns dampfende Teller eines heftig gewürzten Tofu-Gerichts. Auf Nachfrage verrät der Finne, dass er nie in die Sauna gehe, er leide unter trockener Haut. Deswegen dusche er auch nur alle zwei Wochen, für ihn gibt es jeden Morgen eine Katzenwäsche, den „Roadie Shower“.

Übertriebene Hygiene kann man dem 26-Jährigen also nicht nachsagen, richtig ist indes, dass er ein Freund fester Gewohnheiten ist. Reist er nach Berlin, wohnt er stets im einfachen Best Western Hotel in Neukölln, dort wo die Hauptstadt am türkischsten und proletarischsten ist. „Es ist billiger“, meint der anspruchslose Star. „Ich brauche keine Mini-Bar, mein Wasser oder Bier kann ich auch am Kiosk kaufen. Außerdem hasse ich Unterwürfigkeit von Hotelangestellten.“ Der lange Schlaks mit den riesigen Augen steuert abends immer dasselbe Restaurant an, bestellt stets dasselbe, schweißtreibende Essen und geht hinterher in derselben Bar zum Poolbillard. „In Städten wie Hamburg, Köln und Berlin haben wir unsere Stammläden. Man kennt das Personal und fühlt sich gleich heimisch“, meint der pragmatische Vielflieger.

Auch in der Heimatstadt Helsinki hat er seine Lieblingskneipen und -clubs. „Wo ich hingehe, treffe ich häufig Musikerkollegen. In Finnland haben Musiker eine gewisse Würde. Wenn Bands wie Strotovarius, Children Of Bodom oder wir Erfolge feiern, dann kopieren die anderen sie nicht. Jeder probiert, seinen eigenen Sound zu finden. Das macht es leichter, Gespräche zu führen. Wir Musiker bekämpfen uns nicht“, sagt der HIM-Frontmann vielleicht etwas blauäugig.

Er habe in seinem Leben in zwanzig verschiedenen Bands gespielt, so entstanden Kontakte, die heute noch halten. Man kennt sich und man hilft sich in der finnischen Szene. Valo verehrt besonders die Cello-Rocker Apocalyptica, „ursprünglich sollte ich auf ihrer neuen Platte singen, aber wir hatten einfach nicht genug Zeit“, er zuckt mit den Schultern und bestellt Eiswürfel für sein Bier. Gefrorenes Wasser im Pils? „Die Vorteile sind, man findet sein Glas immer wieder und man muss nicht so oft aufstoßen, das Eis bindet die Kohlensäure. Bier muss kalt sein“, sagt er entschieden.

Trotz seines Asthmas raucht Ville Valo Kette. „Meine Gesundheit könnte schlechter sein“, bemerkt er und zieht trotzig an der Fluppe. Für ihn scheinen Zigaretten den Rock’n’Roll zu symbolisieren, gleich auf zwei Albumcovern ist er mit Glimmstengel zu sehen. Mehr als Krebs fürchtet er offensichtlich Grippeviren im Tourbus. „Live spielen macht nur Spaß, wenn keiner krank ist. Hat einer die Grippe, steckt erden nächsten an, dann bereiten Aircondition und Asthma mir echtes Kopfzerbrechen. Wir leben auf engstem Raum, das kann schon sehr nerven!“

In diesen Tagen erscheint das vierte HIM-Album, Love Metal. Wie alle Scheiben zuvor enthält es Elemente aus den Genres Rock, Gothic und Pop, freilich in einem frischen Mischungsverhältnis. Anders als der kuschelige Vorgänger Deep Shadows and Brilliant Highlights wird auf dem aktuellen Werk recht heftig gerockt. „Jedes Album hat einen Grund für seine Existenz, es ist die Stufe zur nächsten Platte. Die neuen Lieder sollten rockiger werden und auf Gitarrenriffs basieren. Ein wenig erinnert mich Love Metal an Led Zeppelin, ihr viertes Album ist eine Achterbahnfahrt von leisen zu lauten Momenten, von sanften zu harten Liedern. Das war auch unsere Grundidee“, meint der Kenner der Rock-Historie und zwinkert betont deutlieh mit den Augen. Vergleiche mit Rockgöttern sind nun mal ein heißes Eisen.

Led Zeppelin IV enthielt bekanntlich den Klassiker „Stairway To Heaven“, der Page, Plant, Jones und Bonham endgültig in den Orbit der Superstars katapultierte. Werden HIM ähnlich durchstarten? „Keine Ahnung, doch das dritte Zeppelin-Album war auch eher soft, genau wie unser drittes. Da scheint es ein Muster zu geben, das Rockbands wiederholen. „Während der neuen Aufnahmen hätten sie viel Black Sabbath und Iggy Pop gehört, „man merkt immer, was wir zur Zeit der Aufnahmen im CD-Player hatten.“

Besonders zufrieden ist Valo dieses Mal mit seinen Gesangsleistungen.

„Ich habe sehr schnell gearbeitet und so drei Songs am Tag eingesungen. Ich hatte Fieber, einige Songs sind deswegen sehr emotional“, berichtet der Frontmann mit der fragilen Gesundheit, „vielleicht sollte ich mich vor den nächsten Aufnahmen absichtlich infizieren. Eine raue Stimme wie etwa von Robert Plant gefällt mir ohnehin besser.“ Seine instrumentalen Fähigkeiten bezeichnet der Finne dagegen als „durchschnittlich“. „Mein erstes Instrument war der Bass, den habe ich 14 Jahre lang gespielt. Als Gitarrist sehe ich mich auf dem Level von Neil Young, ich spiele mies, aber schön. Das gleiche gilt für meine Fähigkeiten am Schlagzeug. Was zählt, ist das Gefühl.“

Im Laufe von sechs Jahren ist HIM als Gruppe zusammengewachsen. Anfangs gab sich der Sänger und Songwriter als unumschränkter Herrscher, prompt witzelte die Musikpresse: „Sein Ville geschehe“. Heute lässt Valo die Kollegen ihre eigenen Beiträge entwickeln. „Studiomucker wirst du bei uns nicht finden, das ist Teil der finnischen Musikerwürde, von der ich bereits sprach. Andere Bands stehen auf große Mengen Koks, die sie von den Hängebrüsten der Groupies schnupfen, uns ging’s nie um solche Rockstar-Allüren. Wir sind Freunde, die zusammen Musik machen.“ Bassist Mige Amour (bürgerlich: Mikko Paanen) und Gitarrist Lily Lazer (alias Mikko Lindström) kennt er schon aus der Schule, Trommler Gas Lipstick (bürgerlich: Mikka Karppinen) und Keyboarder Emerson Burton (a.k.a. Jani Purttinen) traf er vor mehr als acht Jahren. Als Saitenheld Lindström ein Album für sein Seitenprojekt „Daniel Lioneye“ aufnahm, stand ihm Freund Valo selbstverständlich als Trommler zur Verfügung. Mit verklärtem Blick spricht Ville von der Zeit, „als Mige und ich in seinem kleinen Auto saßen und immer wieder dieselben Kiss- und Black-Sobbath-Songs hörten. Wir wollten unbedingt herauskriegen, wie die das machen. “ Neben den harten Bands der Siebziger mag der vielseitige Musiker Popstars der Achtziger wie etwa Duran Duran und den Michael Jackson der Thriller-Ära, aber auch Gothic-Größen wie The Sisters Of Mercy und The Mission. „Das Wichtigste für mich sind Melodien, ich mag zum Beispiel Suede oder Kylie Minogue. Unterwegs auf Tour lege ich aber auch Black Metaller wie Impaled Nazarene und Dimmu Borgir auf, das ist gut für die Band, weil es eine aggressive Stimmung schafft.“

Textlich behandeln HIM-Hymnen fast ausschließlich die Damenwelt, auch wenn Ville sie heute mit neuen Augen betrachtet. „Ich bin 26, fast dreißig, bewege mich also auf die Midlife Crisis zu“, grinst er kokett. „Meine Texte sind introvertierter geworden. Ich versuche, meinen Platz in der Welt zu finden und schaue mir das Leben meiner Freunde an. Aus diesen Beobachtungen filtere ich die Melancholie heraus“, sagt er, um schnell hinzuzusetzen, „melancholisch heißt nicht, depressiv zu sein. Nach Valos Meinung handeln 99 Prozent aller guten Lieder von der Liebe. So locker der Skandinavier sich im Gespräch gibt, so diskret behandelt er sein Privatleben. Mehr als dass er in einer Beziehung lebt, schlanke Mädels bevorzugt und momentan keinen Kinderwunsch hegt, ist ihm nicht zu entlocken.

Auffällig ist das religiöse Pathos, das seine Songs umgibt. Die Kracher heißen „Beyond Redemption“ (Jenseits der Erlösung), „Soul On Fire“ oder „The Sacrament“. In bester Rock’n’Roll-Tradition agieren HIM lieber mit dickem Pinsel als dünnem Bleistift. „Liebe ist eine große Sache, sie ist meine Religion, deshalb verwende ich diese Worte. Ansonsten bin ich Heide und stolz darauf! Dennoch macht es mir Spaß, mit religiösen Begriffen herumzuhantieren, sie sind pompös und kraftvoll. Ich stehe auf die größten Worte, die man benutzen kann.“

Von ähnlichem Kaliber ist der Titel des Albums: Love Metal. In ihrer grellen Plakativität führt diese Wortschöpfung zwei scheinbar gegensätzliche Dinge zusammen. Der Titel erinnert an Valos alte Helden Kiss, die Songs Namen wie „Love Gun“ oder „Sweet Pain“ gaben. „Damals ’97, als wir begonnen, antworteten wir auf die Journalistenfrage, was für Musik wir machen, stets ‚love metal‘. Wir wollen einmalig sein und Musik spielen, die ein Genre definiert, wie ,Block Metal‘ oder ‚Rock’n’Roll'“, lacht Ville leicht verschämt. Auch das sogenannte „Heartagram“, das Bandlogo von HIM, führt zwei Welten zusammen: Das Herz als Symbol der Liebe und das Pentagram, das für schwarze Magie steht.

Wahrend HIM praktisch in ganz Europa längst Publikumsmagneten sind, haben England und Amerika bislang kaum reagiert. Einen eingefleischten Anhänger aus den USA haben die fünf Finnen jedoch immerhin, Bam Magara, den durchgeknallten „Jackass“-Verrückten und Skateboard-Champion. Es vergeht kein Interview oder TV-Porträt, in dem der fanatisierte Magara HIM nicht lobt undpreist. Ihr „Heartagram“ ziert seine Skateboards.

„Auf einer seiner Skateboard-Tourneen reiste er auch nach Finnland. Er sah unser Poster und kaufte Razorblade Romance“, weiß Valo. „2001 trafen wir uns in London, bei einem unserer Konzerte. Kurz darauf kam er wieder nach Finnland, wo ich sein Gastgeber war. Seither sind wir gute Freunde. Er ist wahnsinnig! Er hat sich sogar dieselben Tattoos wie ich machen lassen. HIM engagierten Magara als Regisseur ihres aktuellen Videos „Buried Alive By Love“. „Bam kennt Juliette Lewis, den Star aus ‚Natural Born Killers‘, und überzeugte sie, mitzumachen. In dem Clip hält Juliette meine Hand. Bam hat bereits viele Videos gedreht, ich hatte keinerlei Angst, dass die Sache zu einer Jackass-Kopie werden könnte, denn er versteht sein Handwerk.“

Trotz zwei Millionen verkaufter Alben ist Ville Valo ein Star zum Anfassen geblieben, Großspurigkeit und Allüren sind ihm fremd.

„In Helsinki wissen die Leute, wer ich bin. Dennoch lebe ich ein normales Leben, wie alle anderen muss auch ich Toilettenpapier einkaufen. Meine Familie, Band und Plattenfirma sind in Finnland, ich habe starke emotionale Bindungen zu dem Land und kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben.“ Anfang kommenden Jahres wollen HIM ihr Glück in der Neuen Welt versuchen. Ist der europäische Star bereit für Hype, Hektik und die Heimsuchungen, die ein Durchstarten in den Vereinigten Staaten mit sich bringen würde? Ville bleibt cool: „Darauf sind wir vorbereitet, schließlich haben wir lange genug in Europa geprobt.“

P.S. Beim nächtlichen Pool Billard in seiner Berliner Stammbar tritt Ville gegen einen befreundeten Produzenten an. Sie spielen um Studiozeit. Am Ende hat Valo zwei Studiotage gewonnen, die er großzügig der befreundeten Band Zeraphine schenkt. www.him-music.de