Magie und Poesie


Bob Dylan

The Bootleg Series Vol. 9 – The Witmark Demos: 1962-1964

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The Original Mono Recordings

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Columbia/Sony Legacy/Sony Music

Die formativen Jahres des „song and dance man“, der aus Folk, Blues und Rock eine Musik schuf, die zum Soundtrack der Sixties wurde: mit Dutzenden unveröffentlichten Songs auf einer Doppel-CD und den acht klassischen 60er-Alben als Mono-Mixes in einer formschönen Box.

Neulich ging es an gleicher Stelle um die Würdigung des Solowerkes von John Lennon. Darin spielt „God“ vom Longplayer JOHN LENNON/PLASTIC ONO BAND eine zentrale Rolle, gleichsam als Manifest der Selbstvergewisserung: “ (…) I don’t believe in kings. I don’t believe in Elvis. I don’t believe in Zimmerman (…) “ Gewiss war in jenem Jahr 1970 die Zahl derer, die vom Glauben an Robert Allen Zimmerman alias Bob Dylan abzufallen schienen, beträchtlich. Ausgerechnet der Künstler, der wie kein anderer jenseits der Beatles die 60er-Jahre geprägt hatte, begann seine Fans mit Johnny-Cash-Duetten, einer vermeintlich leichtgewichtigen Country-Platte (NASHVILLE SKYLINE) und einem erratischen Doppelalbum inklusive allerlei Fremdmaterial (SELF PORTRAIT) zu verwirren. Wie notwendig all das war, leuchtete vielen erst viel später ein, manchen auch nie. Man trauerte dem „Sprachrohr einer Generation“ nach und hatte nicht verstanden: He’s an artist, he don’t look back.

Wir aber, Rezensenten und Rezipienten, dürfen jetzt Dank zweier exquisiter Veröffentlichungen zurückschauen auf jene formativen Jahre, da Bob Dylan zum Mythos und seine Musik zum Soundtrack der Sixties wurde: Zunächst ist da der neunte Teil der verdienstvollen BOOTLEG SERIES, (einen Überblick über die komplette Serie gibt es im Kasten rechts), die sich diesmal den WITMARK DEMOS widmet. Im Juli 1962 hatte der damals 21 Jahre alte Bob – angetan mit abgerissenen Jeans, zerschlissener Jacke und Cordkäppi und schwadronierend von alten Bluesern und Minstrelshows, mit denen herumvagabundiert zu sein er vorgab – einen mit 1000 Dollar dotierten Vertrag mit dem New Yorker Musikverlag Witmark unterschrieben, für den er bis 1964 oft fragmentarische, mitunter fahrige, beizeiten windschiefe Demo-Takes („Mr. Tambourine Man“ am verstimmten Klavier) einspielte, Blaupausen späterer Klassiker. Vieles, was alsbald auf den regulären Alben auftauchte, ist hier zu finden, manches diente als Material für andere Künstler, einiges verschwand in der Versenkung. Der Raritätenfaktor der Doppel-CD ist exorbitant, nur vier der 47 Songs sind bereits veröffentlicht – auf früheren Ausgaben der BOOTLEG SERIES. Das hübsch bebilderte Booklet enthält eine profunde Abhandlung von Colin Escott über die Gepflogenheiten im Musikgeschäft der frühen 60er-Jahre und über die Bedeutung dieser Sessions, die Einblicke in Bob Dylans Arbeitsweise geben, aber auch Zeugnis seiner rasant wachsenden „songwriting-skills“ sind.

Während die WITMARK DEMOS bei aller musikhistorischen Bedeutung und interpretatorischen Qualität in erster Linie eingefleischte Dylanologen interessieren dürften, gehören THE ORIGINAL MONO RECORDINGS in jedes gut sortierte Platten-, vulgo: CD-Regal. Die handliche Box enthält die Alben BOB DYLAN (1962), THE FREEWHEELIN‘ BOB DYLAN (1963), THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘ (1964), ANOTHER SIDE OF BOB DYLAN (1964), BRINGING IT ALL BACK HOME (1965), HIGHWAY 61 REVISITED (1965), BLONDE ON BLONDE (1966) und JOHN WESLEY HARDING (1968), mithin jene Werke, mit denen Bob Dylan die populäre Musik des 20. Jahrhunderts neu definierte. Die Mono-Mixes dieser Longplayer weichen teils beträchtlich von den Stereo-Versionen ab, es variieren die Songlängen und die Gewichtungen der Instrumente im Mix, zudem gewinnen die Tracks deutlich an Wucht und Dynamik: Die Songs der Folk-Phase klingen viel direkter, unmittelbarer, der notorische „thin wild mercury sound“ von HIGHWAY 61 REVISITED und BLONDE ON BLONDE tönt noch wilder, noch quecksilbriger, beim ohnehin von biblischer Verve beseelten JOHN WESLEY HARDING könnte man fast glauben, Robert Johnsons Höllenhunde hetzten Bob Dylan durch die Straßen einer Geisterstadt. Die Qualität all dieser Alben, ihre Magie, ihre Poesie ein weiteres Mal durchzudeklinieren, hieße den Blues an den Mississippi, den Folk in die Appalachen tragen. Nur so viel: Niemand anderem, den Beatles nicht und nicht den Rolling Stones, ist je eine Serie von derart formidablen, mit unsterblichen Songs übervollen, die Genres sprengenden Longplayern gelungen wie diesem „song and dance man“ zwischen 1962 und 1968.

Das umfangreiche Booklet enthält alle wichtigen Fakten zu den Songs und den Sessions, stimmungsvolle Fotos und einen Aufsatz von Greil Marcus. Endlich, analysiert der Doyen und Philosoph der amerikanischen Pop-Kultur, könne man Bob Dylans Klassiker wieder hören, „as they were expected to be heard, and as most often they were meant to be heard“. Fair enough.

www.bobdylan.com

The Bootleg Series Vol. 1-3 (1991):

58 rare bzw. unveröffentlichte Aufnahmen aus den Jahren 1961 bis 1989.

Vol. 4 (1998): Das notorische „Royal Albert Hall“-Konzert, das indes nicht in London, sondern am 17. Mai 1966 in der Free Trade Hall zu Manchester stattfand, inkl. „Judas“-Ruf aus dem Auditorium und Dylans „Play fucking loud“-Replik.

Vol. 5 (2002): Mitschnitt der 1975er „Rolling Thunder Revue“; zu dem Wanderzirkus gehörten u. a. Joan Baez, Roger McGuinn, Bob Neuwirth und Mick Ronson.

Vol. 6 (2004): Dylans Solospot vom 31. Oktober 1964 in der New Yorker Philharmonic Hall, mit einem Gastauftritt von Joan Baez.

Vol 7. (2005): 28 Live-, Demo- und alternative Versionen. Der Soundtrack zu Martin Scorseses Dylan-Doku „No Direction Home“.

Vol 8. (2008): 27 rare bzw. unveröffentlichte Aufnahmen aus den Jahren 1989 bis 2006, die unter dem Titel TELL TALE SIGNS firmieren.