Menschen, Biere, Sensationen!


Die Disco bekommt Konkurrenz. Anders gesagt: Sie zieht um ins Zelt. Was im vergangenen Sommer schon in einigen Großstädten erfolgreich anlief, verspricht in diesem Jahr der Renner zu werden: Ein rundes Dutzend zweckentfremdeter Zirkuszelte lockt mit Konzerten, Shows, Disco-Nächten und einem exotischen Ambiente, das die etablierte Konkurrenz nicht bieten kann. Für das leibliche Wohl ist natürlich auch gesorgt. Denn die Zelt-Gastronomen haben schnell erkannt, daß sie mit ihrer mobilen Disco auf eine ausgewachsene Goldader gestoßen sind. ME/ Sounds sprach mit den Machern und stellt auch die wichtigsten Zelte vor.

Nach Berlin, Hamburg und Köln steht „Die Macht der Nacht“ (o.) in diesem Sommer in München. Der „Musikzirkus“ (r.) hat in Hannover sein Quartier, das „Tempodrom“ (im Foto Besitzerin Irene Mössinger) gilt schon seit Jahren als Berliner Institution, das Oberhausener „Blue Moon“ (rechts außen) ist ein Publikumsmagnet im Ruhrgebiet.

Die Disco als Aflenzirkus im Vergnügungspark des Schlaraffenlands. Demnächst auch in deiner Stadt!

Kein Zweifel: Es geht voran! Auf dem deutschen Tanzboden tut sich was. Die Unterhaltungs-Gastronomie scheint aufgewacht. „Der eigentliche Durchbruch.ist in diesem Jahr zu erwarten. Wer jetzt plant, kann noch mitverdienen“, ermutigt das Fachblatt „Die Geschäftsidee“ in einem großen Feature über das zukunftsweisende Unternehmenskonzept „Musikzirkus“.

Ganz ähnlich äußert sich Manfred P. Groneck, Verleger des Branchenblatts „Disco Forum“: „Den Musikzirkus-Betreibern muß man bescheinigen, mit Strandbars am Pool, Cocktailkäfigen. Ochsen vom Grill, Biergärten und Creperien einfach bessere Ideen zu haben als die örtliche ansässige, etablierte Disco-Szene. Die Entwicklung der letzten Monate gibt dem Konzept recht. „

Wenn der Zirkus kommt, bekommen die stationären Tanzdielen das Zittern. Wie zur Zeit in München, wo „Die Macht der Nacht“ ihre Zelte aufgeschlagen hat und für die überfällige Bereicherung des sonst eher tristen Nachtlebens der Bayern-Metropole sorgt.

Das Großraum-Rund für 3.500 Tanzwütige war bereits die Night-Life-Attraktion in Köln, Hamburg und Berlin; an Spitzen-Tagen vergnügten sich bis zu 10.000 Besucher anscheinend besser als anderswo. – Musik-Zirkus-Betreiber und Ex-Roncalli-Mann Rainer Wengenroth bringt sein Erfolgsrezept auf den simplen Nenner „Event-Disco“. Oder anders gesagt: „Der Disco-Besuch muß ein Erlebnis sein.“ „Die Geschäftsidee“ hat für das zugkräftige Konzept sogar schon einen Namen: „Erlebnis-Gastronomie“.

In „Der Macht der Nacht“ sieht das zum Beispiel so aus: An den Plattentellern zaubert Deutschlands unangefochtener DJ-Champion WestBam sein scharfes Mix-Menü, in der Arena toben trillerpfeifende Tänzer, in der Zirkuskuppel balancieren Artisten auf Drahteseln durchs All. Wunderweib „The Rose“ scheint aus Gummi zu sein und der Feuerschlucker direkt aus dem Cocktail-Käfig zu kommen. Unzählige BPM und noch mehr Phon lassen die Planen beben. Bars, Bier-Inseln und reichhaltige Restauration verleiten zum Gelage. Wengenroth macht Wangen rot.

Und wenn in seinem Wigwam nicht gerade dreimal wöchentlich der Tanzbär steppt, gibt’s Kino („Sign O The Time“, „The Cure in Orange“, „Bluesbrothers“, „Casablanca“ etc.) und ausgesuchte Live-Konzerte (Einstürzende Neubauten, Rory Gallagher, Der Plan und die Thrash Groove Girls). „Einmalig für diese Stadt“, urteilte das Berlin-Magazin TIP. „Deutschlands verrückteste Disco“, befand BILD.

„Die Macht der Nacht“ ist keineswegs das erste und einzige Projekt dieser Art. Mittlerweile gibt es in der BRD schon gut ein Dutzend dieser Freiluft-Tempel.

1983 brachte der Hannoveraner Discotheken-Betreiber Werner Schräge die Idee aus Frankreich an die Leine. Er gilt als Pionier. Seitdem steht sein „Musik-Zirkus“ fast ständig auf dem Schützenplatz und lockt wöchentlich 8000 Besucher.

Im selben Jahr wurde in Osnabrück eine Frau eher unfreiwillig zur Zirkuschefin und Vorreiterin der Idee. Die Stadtverwaltung hatte Conny Overbeck ihre über die Stadtmauern hinaus bekannte Discothek „Hyde-Park“ geschlossen. Mangels Alternativen fand sie in einem „Zirkus Althoff“-Zelt von August ’83 bis Dezember ’84 ein Ausweichquartier. Ganz anders die (im Blätterwald hinreichend verbratene) Geschichte von der braven Krankenschwester Irene Mössinger, die sich 1980 mit einer Erbschaft von 500.000,–— DM den Glitzertraum von der Zirkusprinzessin erfüllen konnte — das „Tempodrom“ in Berlin. Ihr anfängliches Musik-Revue-Variete-Zirkus-Konzept brachte das alternative Unternehmen allerdings schnell in die roten Zahlen. Mit der Unterstützung des Berliner Kultursenators und einem neuen, stark musikorientierten Programm (siehe Kasten) ging es dann 1984 wesentlich erfolgreicher weiter. Am Wochenende gibt es seitdem regelmäßig Disco, wochentags hochkarätige Rockkonzerte.

Der Standort „In den Zelten“ im Berliner Tiergarten ist eine geschichtsträchtige Adresse. Im 19. Jahrhundert avancierte das Areal zur Berliner Vergnügungsmeile. Geschäftstüchtige Hugenotten hatten Schankzelte aufgestellt. Die Tradition der klassischen „Frühkonzerte“ wurde hier geboren, ebenso der Ausdruck „Bis in die Puppen“. Die Zelte erlebten ihren Zenit in den Veranstaltungen und Shows der 20er Jahre und wurden erst zu Kriegsende zerstört.

Bis nach dem Krieg gab es in Belgien und Holland mobile Tanzsäle, sogenannte „Spiegelzelte“, die mit den heutigen Musikzelten vergleichbar sind.

Ein solch prachtvoller Jugendstiltanzsalon, ein holländisches Spiegelzelt, ist Zentrum einer Zeltstadt, die nun schon im sechsten Jahr Rahmen und Raum für das „Zelt-Musik-Festival“ in Freiburg bietet. Mittlerweile, so behaupten die Organisatoren, soll es „das größte Musikfest in Deutschland“ sein. Initiator ist der Freiburger Arzt Alexander Heisler, der zwar nicht zur Disco antanzen läßt, aber mit 120 Live-Veranstaltungen locker 60.000 Besucher in zweieinhalb Wochen in die vier Zelte zerrt.

Ein holländisches „Spiegelzelt“ hat sich kürzlich auch Roncalii-Chef Bernhard Paul zugelegt. Paul gilt als Initialzünder der neuen Zirkuswelle. Als Ende der 70er Jahre mit wachsender Fernsehkultur dem fahrenden Volk der Saft ausging, gab er mit innovativen Ideen dem abgetakelten Zirkus wieder Auftrieb.

Es ist daher kein Zufall, daß einige Musik-Zirkusbetreiber ihre Lehrjahre bei Roncalli absolvierten.

Rainer Wengenroth von „Die Macht der Nacht“: „Bernhard Paul steht uns heute noch mit Rat und Tat zur Seite. Er ist unser Mentor, wir seine Lehrlinge.“

Ein Ex-Roncalli-Azubi ist auch Hannes Schiffte, bis vor kurzem Partner von Wengenroth und jetzt Promoter und Know-How-Lieferant für das „Blue Moon“ in Oberhausen. In der Kohlenpott-Metropole gibt es damit zwei Disco-Zirkusse, denn er ist angetreten, der etablierten Konkurrenz das Fürchten zu lehren — und die steht nur wenige Kilometer entfernt und nennt sich „Musik-Zirkus-Ruhr“.

Das Disco-Zelt gegenüber dem Niederrhein-Stadion war im vergangenen Jahr ein Publikumsmagnet, der bis zur niederländischen Grenze wirkte und überhaupt der heißeste Kumpel-Treff im Revier. Tanz bis in die Puppen und schweißtreibende Live-Konzerte mit Roger Chapman und James Brown. Für Abkühlung sorgt hier ein separates Zelt mit 10 Meter Pool. Der Zauber der Manege und viele Überraschungen wie Biergärten, Bars und Bistros ließen hier kräftig die Kassen klingeln.

Der durchschlagende Erfolg ermutigte das neunköpfige Jungunternehmer-Team aus Szene-Gastronomie, Konzertpromotion, Werbeagentur und PA-Verleih zur Expansion. Eine Filiale in Saarlouis nahe der französischen Grenze ist eröffnet, und im Sommer will man bei größeren Open air-Festivals für den krönenden Abschluß sorgen.

Den „Musik-Zirkus-Ruhr“-Gesellschafter Olaf Hasenbein schreckt die Konkurrenz vor Ort allerdings nicht. Er gibt dem „Blue Moon“, „sobald wir eröffnet haben, noch höchstens zwei Monate.“

Schon einmal konnte die Hasenbein-Crew den Verfolger abhängen. Nur wenige Monate nach der Eröffnung ’87 war ein Epigone auf dem Plan. Ede Engel, regionaler Discotheken-Mogul („Old-Daddys“-Kette), wollte dem Kehraus nicht untätig zusehen und konterte mit einem kleineren Zelt direkt um die Ecke. In aller Kürze zog er den Kürzeren und baute wieder ab. „Nur wenn ganz Oberhausen tanzt, ist Platz für zwei“, urteilen Szene-asten.

Engel kam ebenso schnell, wie er ging, vergrößert wieder zurück und eröffnete als Erster die Saison in Oberhausen. Auch wenn Petrus wenig Solidarität zeigte und Pfützen ins Zelt schiffte, setzte sich Engel durch: Abend für Abend erfreuen 4000 zahlende Besucher den Gastronom. Doch was wird, wenn zum Monatsende auch der „Musik-Zirkus-Ruhr“ eröffnet?

Beim Goldschürfen im Disco-Zelt ist schon manch einer baden gegangen. Aufgrund der hohen Investitionen (ca. 1.5 Mill. DM) wird eine Zirkus-Eröffnung leicht zum halsbrecherischen Hochseilakt — oft ohne Netz und doppelten Boden. Frühe Musik-Zirkus-Experimente in Kiel und München scheiterten. Doch die Lehrjahre scheinen nun vorbei, wie’s gemacht wird weiß heute jeder in der Branche. Ein beschalltes Bierzelt reicht nicht aus.

Patrick Wagner aus Pirmasens, Sproß einer Artistenfamilie, hat sich fast alle Musik-Zelte angeguckt und ein Jahr nach einem geeigneten Standplatz Ausschau gehalten. Er fand ihn in Mannheim-Friedrichsfeld auf dem Gelände eines ehemaligen Autokinos, verkehrsgünstig an der A 656 gelegen und fern ab aller „störenden“ Nachbarn.

„Macht der Nacht“-Wächter Wengenroth weiß, welchen Zirkus genervte Anwohner veranstalten können. So erzählt er gerne die Geschichte von dem Berliner Akustik-Professor, der mit aller Macht „die Macht der Nacht“ in die Knie zwingen wollte. Angeblich wackelten in 600 m Entfernung seine Tassen im Schrank. Mit täglichen Schallschutz-Gutachten versuchte er die Behörden zum Eingreifen zu animieren. Sein Pech: Er beschwerte sich auch an Tagen, an denen das Zelt gar nicht geöffnet war.

Im „Disco-Circus Mannheim“ gibt’s solche Probleme nicht — er ist anwohnerfrei. Im 5000qm-Zelt können 10.000 Kilowatt Ton bis morgens um Fünf voll aufdrehen. PR-Mann Ernie Seifert: „Mannheim ist ideal. Wir haben beste Kontakte zu den zuständigen Behörden, zur Polizei, auch zum RD und zur Oberrheinischen Eisenbahn, die ihre Buslinie ans Zelt angebunden hat.“

Kein Wunder, daß Betreiber Wagner seine Musikmanege stationär und ganzjährig geöffnet konzipierte. Bei ihm steht der Zirkus-Charakter voll im Vordergrund, die Original-Manege ist als Tanzfläche erhalten geblieben; nostalgische Zirkuswagen sind ins Interieur integriert. Alle sechs bis acht Wochen gibt’s neue Attraktionen, sonntags Jazz-Frühschoppen, ab Pfingsten einen Biergarten und einmal im Monat ein Gastspiel.

Ein Ende des Booms ist zumindest vorläufig nicht abzusehen. „Disco-Forum“-Herausgeber Gronek, der übrigens im Auftrag der Bundesregierung auf der nächsten Olympiade in Seoul eine sogenannte „Kunst-Disco“ betreiben wird, prognostiziert: Jede Neuheit ist willkommen. Das wird noch mindestens zwei Jahre laufen. Langfristig wird sich das Musik-Zirkus-Konzept natürlich totlaufen. Dann muß was Neues kommen. „