Portishead: Was sind schon zehn Jahre


Sie verliehen einer der letzte wirklich neuen Pop-Spielarten, dem Trip-Hop ungeheure Macht. Und sie verabschiedeten sich schnell genug, um umgehend als Legende zu gelten. Jetzt sind Portishead zurück und behaupten: "Wir waren nie weg!" Geoff Barrow kann ganz gut erklären, warum das so ist.

1998. Da hatte eine blutjunge Sängerin namens Britney Spears ihren ersten Numer-1-Hit. Frank Sinatra starb an einem Herzinfarkt, Cozy Powell bei einem Autounfall. Tommy Lee von Mötley Crüe wurde verurteilt, weil er seine Frau Pamela Anderson verprügelt hatte. John Frusciante kehrte zu den Red Hot Chili Peppers zurück. Elton John wurde zum Ritter geschlagen und George Michael in einer öffentlichen Toilette wegen „homosexueller Handlungen“ verhaftet. Das Trio Portishead verabschiedete sich mit dem karrierekrönenden Dokument ROSELAND NYC LIVE, einem Mitschnitt ihres Konzerts im New Yorker Club Roseland Ballroom. Mit Orchester und ihren alten, neu arrangierten Hits von „Only You“ über „Glory Box“ bis „Over“ – ein Album als höchst delikates Dessert. Denn danach war: Funkstille. Zehn. Jahre. Lang.

Zehn Jahre, in denen Trip-Hop (siehe Kasten) fast in Vergessenheit geraten ist. Mit Ausnahme weniger Benefizauftritte hatten sich Gitarrist Adrian Utley sowie Multiinstrumentalist und Mastermind Geoff Barrow nur sporadisch der Musik gewidmet, hier und da unter anderem Namen was veröffentlicht oder ein Album anderer Künstler produziert (etwa The Corals THE INVISIBLE INVASION). Nur Sängerin Beth Gibbons veröffentlichte, zusammen mit Paul Webb alias Rustin‘ Man von Talk Talk, das gefeierte Soloalbum OUT OF SEASON, welches wiederum verdächtig an Portishead erinnerte. Dennoch behauptet dieses Trio: „Wir waren nie weg!“ Was auf jeden Fall stimmt, wenn man bedenkt, was diese Band, ihr Sound, ihre Songs heute noch mit nachgeborenen Hörern und Spätentdeckern anstellen. Stichwort: Verschlingen. Aber Portishead meinen das gar nicht im übertragenen Sinn, wenn sie behaupten:

„Wir waren nie weg!“ Wir fragten Geoff Barrow in Berlin, warum es dann so lange nichts zu hören gab von Portishead.

geoff barrow: … Wir veröffentlichten dummy, wir veröffentlichten portishead. Als wir das hinter uns hatten, zerbrach meine Ehe, und auch Adrians Ehe zerbrach. Wir waren alle erschöpft. Wir waren nie eine besonders lässige Tourband. Wir spielten trotzdem alle Festivals, vor allem alle großen Festivals, was für uns eine seltsame Erfahrung war. Als Band kamen wir quasi eben erst aus dem Keller – und spielten plötzlich Gigs in Stadien, bis wir uns fragten: „Was machen wir hier eigentlich?“ Am Ende dieser Tournee mischten wir ROSELAND NYC LIVE in einem kleinen Studio auf dem Lande und merkten dort, wie fertig wir alle waren. Wir hatten es satt.

Einander oder die Musik?

Die Musik. Vor allem die Musik, JEDE Musik! Also hörten wir auf – und tauchten unter.

Wo genau?

Was mich betrifft: zuhause in Bristol. Dort hockte ich eine Weile herum, trank zu viel, fühlte mich noch mieser als zuvor, und draußen regnete es in einem fort. Also kaufte ich mir aus einer Laune heraus ein Flugticket nach Australien. Dort war ich noch nie zuvor gewesen, dort kannte ich keinen Menschen. Aber ich wollte Abstand gewinnen, ich wollte vor allem Sonne! In Sydney lernte ich einen verdammt netten Kerl kennen, Ashley Anderson, den man als eine Art australischen DJ Shadow bezeichnen könnte. Er nahm gerade ein Album auf, mit vielen Samples und so. Ich war zu dieser Zeit überhaupt nicht an Musik interessiert, aber wir wurden sehr gute Freunde. Also half ich ihm dabei, ein Label aufzubauen…

… namens Invada?

Genau. Das hat Spaß gemacht, denn ich mochte die Plattenindustrie schon immer!

Wie bitte?

Naja, die Idee, neue Sachen ins Radio zu bekommen. Ich mag den Enthusiasmus, mit dem man neuer Musik begegnet. Also haben wir das durchgezogen. 2001 kam Adrian Utley nach Australien, und gemeinsam nahmen wir dort dann erstmals wieder neue Musik auf.

Für ein neues Portishead-Album?

Richtig. Wir machten Musik, für ein paar Wochen, und das Ergebnis war okay. Aber kennen sie das, wenn sie eine Arbeit übernehmen, und dann machen sie diese Arbeit, aber ihr Herz und ihr Bauch sind nicht richtig bei der Sache? Es bedeutete uns einfach noch nicht genug, gefühlsmäßig.

Sie standen knapp vor einem neuen Portishead-Album, vor sieben Jahren schon?! Was ist dann passiert?

Dann begann Adrian, bei Beths Soloalbum mitzuarbeiten, Beth ging ein Jahr auf Tour, und ich produzierte ein Album für Stephanie McKay. Ich bin wirklich stolz auf diese Platte, aber damals war der Zeitpunkt erreicht, wo ich mir sagte: „Geoff, das war jetzt der letzte Sargnagel für diese ganze Beat-Geschichte, ich mag nicht mehr.“ Anschließend konzentrierte ich mich mehr auf Invada, diesmal in England, wo wir extrem unkommerzielle Musik veröffentlichten. Doom-Rock, Stoner-Rock, Noise-Zeugs …

Eine Art Therapie, ein Exorzismus?

So kann man’s nennen. Ich begann wieder, auf Konzerte zu gehen. Ich erinnere mich an Acid Mothers Temple, solche Sachen, ausschließlich Musik, die verdammt laut ist. Nur Musik, die dir richtig in den Arsch tritt. Das brachte die Aufregung zurück, die ich so lange nicht mehr gespürt hatte.

Die Aggressivität.

Absolut! Es war dieselbe Faszination, die ich spürte, als ich das erste Mal Public Enemy hörte, als ich noch ein Kind war.

Und dann gings wieder los mit Adrian Utley und Beth Gibbons?

Richtig, obwohl es manchmal ziemlich schwierig war, eine Portishead-Platte zu machen. Wir hatten verdammt viel Druck. Um ein Beispiel zu nennen: 2006 hatten wir sechs Songs. Mit diesen sechs Songs gingen wir zu unserer Plattenfirma, und die sagten: Okay, Ende des Jahres habt ihr neun Songs, sonst sehen wir uns nach jemand anderem um. Ein Jahr später standen wir da – und hatten immer noch sechs Songs. Diese Art von Druck. Aber dann hängten wir uns endlich richtig rein, vor allem Beth komponierte wie wild drauflos, und irgendwann hatten wir elf Songs beisammen.

Die Arbeit an diesem Album hat also, sagen wir, zwei Jahre gedauert?

Nein. Eigentlich hat die Arbeit schon 1993, 1994 angefangen. Ich betrachte das als einen kontinuierlichen Prozess der Optimierung. Deshalb haben wir ja auch nie erklärt, dass es vorbei ist mit Portishead. Nie. Portishead, das ist seit 1994 immer die Hauptsache geblieben.

Die Pause von zehn Jahren gehört also zum kreativen Prozess?

So ist es. Jetzt sind wir älter und sehen das, was wir machen, etwas entspannter. Wir sind aber auch anspruchsvoller geworden dabei. Wir fühlen uns jetzt, da THIRD endlich fertig ist, der ganzen Sache besser gewachsen.

Es hat sich doch aber auch einiges geändert in der Zwischenzeit -vor allem die Industrie.

Mag sein. Ich meine, ich habe ja nun auch ein kleines Label, und niemand verkauft mehr Platten, von der großen Universal bis runter zu meiner kleinen Klitsche, (lacht) Der Grund ist aber nicht das Internet.

Nicht?

Nein, der Grund ist das mangelnde Interesse daran, interessante und anspruchsvolle Musik zu fördern. Ich meine, man sollte einmal die unfassbare Menge an Kohle, die für … (schaut im Raum herum sieht, ein The-Killers-Poster) … sagen wir: die Killers rausgehauen wird, in ein musikalisches Äquivalent von, von mir aus: Arcade Fire investieren und staunen, was dann dabei herauskommt. Es traut sich aber niemand mehr irgendwas, und das ist das Problem. Wenn du eine interessante Band unter Vertrag hast, dann kannst du fast schon davon ausgehen, dass das Radio sie nicht spielen wird, eben weil sie interessant ist. Es ist ja eigentlich eine feine Sache, dass das Publikum so viel Macht hat. Aber was macht es mit dieser Macht, was wünscht es sich? Es wünscht sich 24 Stunden James Blunt. Womit ich nun nicht gesagt haben will, dass James Blunt oder die Killers schlechte Künstler sind …

… sie sind nur einfach nicht interessant?

Würde ich sagen, ja. Derzeit versuchen alle Plattenfirmen in Großbritannien, Bands unter Vertrag zu nehmen, die klingen wie … Foreigner, wenn du weißt, was ich meine. Oder diese, wie hießen die, „Mister Grey Sky“ oder war es „Blue Sky“ …

E.L.O.

Genau. Toller Song! Gute Band! Das Problem ist nur: Es gibt sie schon. Warum muss es sie nun wieder geben, nur in jünger?

Haben sie die Entscheidung von Radiohead verstanden, IN RAINBOWS online zu verschenken?

Ja, weil ich Radiohead kenne. Es war wohl eine politische Entscheidung. Und weil sie Radiohead sind, können die sich das auch leisten. Ich selbst würde das nie tun.

Warum nicht?

Es entwertet Musik. Ich liebe Radiohead, ich habe sie immer geliebt. Es soll jetzt auch gar kein Vorwurf sein, aber… Wenn ich jemanden bitte, mein Auto zu reparieren, dann erwarte ich nicht, dass er es für umsonst macht. Ich finde, sowas macht aus Musikern echt frivole „l’art pour l’art“-Gestalten… Warum sollte ich die wenigen Exemplare, die man heute noch verkaufen kann, freiwillig weggeben? Warum sollte ich das tun? Sobald das Album veröffentlicht ist, ist es ohnehin kostenlos im Netz erhältlich (es war sogar schon einige Zeit zuvor im Internet, trotz höchster Sicherheitsstufe des Plattenlabels usw. – Anm. d. Red.). Und außerdem haben Radiohead für ihr Marketing und ihre digitale Distributionsweise mehr Presse bekommen als für das Album. Dabei ist es ein gutes Album! Aber es ist die beste Marketingkampagne aller Zeiten. Nur wollten sie das gar nicht, denn es hat absolut nichts mit der Musik zu tun. Ein Jammer!

Klingt, als lehnten sie diese Entwicklung prinzipiell ab.

Als jemand, der ein eigenes kleines Label unterhält, muss ich das doch. Ich würde keine einzige Band unter Vertrag nehmen können, wenn ich deren Platten verschenken würde. Es ist so schon schwer genug.

Wird das Geld heutzutage nicht sowieso mit Live-Auftritten verdient?

Das heißt es immer, nicht wahr? Was aber, wenn du keine Liveband bist? Wenn du eine Studioband bist? Soll’s ja geben. Ich selbst hasse es, live aufzutreten – es ist zu viel Stress! Was den Sound angeht: Es ist nicht einfach, unser Material auf die Bühne zu hieven. Und wenn etwas schiefgeht, habe ich immer das Gefühl, es sei mein Fehler gewesen. Ich bin eben verantwortlich…

Auch für den neuen, härteren Sound?

Das ist halt der Fortschritt! Als DUMMY herauskam, sagten die Leute: „Hey, das ist ja ein weirder Sound!“, und auch bei PORTISHEAD. Genau so soll es nun mit THIRD sein.

Waren Portishead – mit der Jazzsängerin und den Zeitlupen-Hip-Hop-Beats – nicht auch eine Modeerscheinung?

Klar! Aber eine interessante! Das ist es, was wird mit third erreichen wollten: Ein Album zu machen, das noch interessanter klingt als alles, was wir bisher gemacht haben.

Trotzdem: In zehn Jahren entwickelt sich so allerhand…

Ja, aber es hat sich auch viel Scheiße entwickelt. Ehrlich gesagt, was den Sound angeht, sehe ich keine sooo großen Fortschritte. Tanzmusik? Hat sich nicht nennenswert weiterentwickelt. Rockmusik? Linkin Park und ihre unbeholfenen Scratches? Pah! Okay, es gibt immer noch Aphex Twin, der war schon immer ganz weit draußen. Und was den Gesang angeht, da gibt es diesen Singer und Songwriter aus New York… Beth ist ein Riesenfan von ihm… Zieht Frauenkleider an…

Antony Hegarty?

Ja, Antony and The Johnsons! Was der schreibt, sind Klassiker. Ansonsten sehe ich da keine große Entwicklung in den letzten zehn Jahren. Vom Internet mal abgesehen …

Und was den eigenen Sound angeht?

Harscher. Und traditioneller. Weniger abhängig von der Technologie, aber die Technologie nutzend. Wir zerhacken und loopen noch immer die Sachen. Keine Samples. Auf dummy war das meiste schon Schlagzeug, auf portishead haben wir gerade mal zwei Samples benutzt. Diesmal: gar keine. Aber es gibt dir das Gefühl, als wären da viele Samples. Vor allem arbeiten wir heute anders als früher. Beth kann auf der Gitarre Songs schreiben, Adrian Beats programmieren und ich Ideen für die Lyrics haben… es ist mehr ein Crossover zwischen uns Dreien. Und so erzeugen wir, was Adrian „den Gegensatz von Härte und Trauer“ nennt. Dabei will vor allem Beth unbedingt vermeiden, dass wir wie eine „normale Band“ klingen.

portishead.co.uk