Buch

Ueberdog

von Jörg-Uwe Albig

Eine Fotografin entdeckt die Unterseite der

besseren Gesellschaft.

Jörg-Uwe Albig liebt es, seinen Romanen eine Umkehrung bestehender Verhältnisse mitzugeben. So ließ der 1960 geborene Autor in „Land voller Liebe“ die DDR über die BRD triumphieren; in „Berlin Palace“ hat China die Übermacht, aber die Chinesen haben eine Faible für deutsche Lebensart entwickelt. In „Ueberdog“ schließlich, dem vierten Roman des als Reporter bekannt gewordenen Albig, steckt die Umkehrung schon im Titel – diesmal geht es um eine Gruppe Obdachloser, die sich als die eigentlich erstrebenswerte High Society herausstellt. Zumindest für Stella Sachs, eine Gesellschaftsfotografin, die zunehmend fasziniert ist von der Truppe um den rätselhaften Schmiddel. Allerdings handelt es sich bei Albigs Umkehrungen der Verhältnisse nicht so sehr um die Basis zum Inszenieren mehr oder minder origineller Gag-Situationen (siehe Timur Vermes‘ „Er ist wieder da“). Wobei es auch in „Ueberdog“ einiges zu lachen gibt – aber das verdankt sich eben der genauen Beobachtung der Rituale unserer gegenwärtigen Gesellschaft. So berichtet Stella vom Roten Teppich einer Bademodengala: „Die Taxis hielten in rascher Folge, entließen Meinhard (,Purzel‘) von Gloeden und eine unbekannte Schöne, eng gefolgt vom unerschrockenen Charly Brechmeister, noch immer so unschuldig, unbezähmbar und draufgängerisch wie als Assistenzarzt Felix Doppler in, Die kleine Krebsklinik am Ende der Straße‘.“ Die erwähnte Modenschau findet in der Baustelle der Hamburger Elbphilharmonie statt, in der später auch die Obdachlosengruppe haust – oder vielmehr: residiert. Immer krassere Situationen erfindet Albig, in denen sie die „Sesshaften“ provozieren, wobei nicht immer ganz klar ist, was hier Elend ist, was Revolte und was eine Kunstaktion. In dieser Ambivalenz ist die Gruppe den Figuren eines Bret Easton Ellis nicht unähnlich: eine Gesellschaftsanalyse mit großer stilistischer Eleganz.

***** Felix Bayer

Ein Hologramm für den König

von Dave Eggers

Wie der Einfluss Amerikas in der Welt sinkt – am Beispiel eines Losers in Saudi-Arabien.

Es ist viel schiefgegangen im Leben des Alan Clay: Seine Frau ist schon lange weg, seiner Tochter Kit kann er das College nicht mehr bezahlen, der Versuch, sich im Fahrradbaugeschäft auf eigene Beine zu stellen, scheiterte. Und so ist er nun mit Mitte 50 in Saudi-Arabien, entsandt von einer amerikanischen IT-Firma, weil er vor Jahrzehnten mal einen Neffen des Königs Abdullah kennengelernt hatte. Dieser entscheidet über einen großen Auftrag in der Retortenstadt King Abdullah Economic City – allein: Er lässt auf sich warten. Alan sitzt am Tage im Präsentationszelt und am Abend trinkt er illegalen Schnaps und macht sich Sorgen über eine Geschwulst am Rücken. Doch Dave Eggers ist schon seit seinem autobiografischen Werk „Ein herzzerreißendes Buch von umwerfender Genialität“ bekannt dafür, dass er schwerste Schicksale mit viel Humor beschreiben kann, ohne die Umstände zu beschönigen. Auch für Alan Clay hat er immer wieder Hoffnungsschimmer parat, die sich doch ebenso regelmäßig verdunkeln. Und weil es Eggers darunter nicht macht, funktioniert das Buch auch als Parabel auf den schwindenden Einfluss der USA in der Welt.

****1/2 Felix Bayer

Subkultur Westberlin 1979-1989

von Wolfgang Müller

Die Tödliche Doris als Nabel der Welt – versponnene Enzyklopädie einer untergegangenen Insel.

„Geniale Dilletanten“ – ursprünglich ein Tippfehler, wurde dieser Begriff gerade wegen seiner Fehlschreibung zum treffenden Namen für die Szene zwischen Kunst, Pop und Kneipen Anfang der 80er-Jahre. Den im Merve-Verlag erschienenen Band über die „Geniale Dilletanten“ gab damals Wolfgang Müller heraus, Gründer der Konzeptkunst-Popband Die Tödliche Doris. Nun hat sich Müller noch einmal an diese Zeit erinnert und mit enormer Detailkenntnis dem Westberliner Underground der Achtziger ein Denkmal gesetzt. Es sind später Berühmte bei ihren ersten Schritten zu sehen: Dr. Motte beschimpft Avantgardemusiker, Blixa Bargeld sitzt im Untergrundkino an der Kasse, Ben Becker ist nicht halb so cool, wie er glaubt. Aber für toll halten sie sich alle auf der Insel Westberlin. So abgebrüht sind sie, dass keiner Iggy Pop hilft, der sich in einer Telefonzelle eingeschlossen hat – es könnte ja eine Performance sein! Zwischen solchen tollen Anekdoten mäandert Müllers Rückblick manchmal dahin (fast 600 Seiten!), findet aber gerade deshalb den Platz, auch vergessene Figuren vorzustellen.

***** Felix Bayer

Harte Jungs

Von Florentine Joop

Niedlicher Neunziger-Jahre-Erinnerungsroman der Joop-Tochter.

„Rückblickend muss ich meinen Eltern danken, die mich (…) in den Siebzigern in die Welt gesetzt haben, damit ich zwanzig sein durfte in den Neunzigern“, schreibt Florentine Joop im Nachwort zu ihrem Roman. „Die letzten Tage der Unschuld. Wir waren Helden, und das, System‘ und die, Industrie‘ waren unser erklärter Feind, auf MTV liefen noch Videos (…).“ Von Grunge und dem dazugehörigen Lebensgefühl handelt das Buch der jüngeren Tochter des Modedesigners Wolfgang Joop, die bisher vor allem Kinderbücher illustriert hat. In „Harte Jungs“ erzählt sie von einem Mädchen, das sich im Hamburger Nachtleben in einen Musiker verliebt, mit dessen Jungsfreunden sie fortan ständig herumhängt. So sonderlich hart kommen die gar nicht rüber, halt so Typen Anfang 20 mit fragwürdigen Hygienevorstellungen. Aber es ist genau diese großäugige Faszination, die die Stärke dieser ansonsten recht konventionellen Liebes- und Coming-of-Age-Geschichte ist. Die Haltung, aus der naiv-schöne Sätze entstehen wie dieser über Kurt Cobain: „Wenn man genau hingehört hat, dann hat er ja immer schon geschrien. Aber ich dachte wirklich, er hat als Musiker geschrien, weil Singen eben nicht immer genug war.“

***1/2 Felix Bayer

Bevor alles verschwindet

von Annika Scheffel

Ein Dorf und das Wasser – eine fiebrige Chronik denkbarer Ereignisse.

Es ist ein kleiner Kosmos, den Annika Scheffel in „Bevor alles verschwindet“ aufzieht. Doch beinhaltet er alles, was man braucht. Eine Kirche, deren Spitze in den Sonnenstrahlen funkelt, einen Marktplatz und allerhand wunderliche Charaktere, die sich mit dem Bevorstehenden auseinandersetzen müssen: Das Dorf soll geflutet werden. Ein Verlust, aus dem Scheffel Großes schnitzt, nämlich ein feines Soziogramm einer Gemeinschaft, die eigenartig zwischen Gegenwart und Zeitlosigkeit schwebt, die weiter entfernt vom modernen Leben scheint als die halbe Stunde, die der Krankenwagen ins Dorf braucht, aber dennoch Nuss-Nougat-Croissants kauft, Mobiltelefone besitzt und auf 30-Liter-Eimern sitzt, in denen der Gasthof sein Convenience-Sauerkraut bestellt hat. Da sind die Zwillinge Jules und Jula, da ist das Kindergartenkind Marie, das erwachsener ist als alle um sie herum, da ist die wundersame Mona, deren Haus als Erstes zertrümmert wird. „Wie ein Ort so still werden kann, trotz Baulärm und obwohl noch einige Bewohner da sind, wie man das Gefühl bekommen kann, ganz allein zu sein auf der Welt“, heißt es einmal. In diesen Kosmos taucht man trotz aller Abscheulichkeit gerne ein.

***** Jochen Overbeck