Album der Woche

Fever Ray Radical Romantics


PIAS/Rabid/Rough Trade (VÖ: 10.3.)

von

Nach dem in jeder Hinsicht intensiven Blut- und Wundenepos PLUNGE wendet sich Karin Dreijer alias Fever Ray sechs Jahre später dem Themenkomplex Liebe und Romantik zu. Beziehungsweise den mythischen Vorstellungen und Zuschreibungen, mit denen die Menschheit seit jeher das berühmte Kribbeln im Bauch und andere physische Zustände auflädt. Schon beim Blick aufs Albumcover sollte klar sein, dass Fever Rays Versuchsanordnung keine gefälligen Liebeslieder hervorbringt, Herzchen als I-Punkte hin oder her. Ein freundlich-interessiertes Alien guckt dir ganz tief ins Herz, so tief, bis es unbehaglich wird.

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„Tapping Fingers“ zum Beispiel ist eins der traurigsten und gleichzeitig zärtlichsten Stücke, die die eine Hälfte von The Knife je geschrieben hat: „Let me know / If this is the last day / We run our bodies as we go to sleep / Tapping fngers as a way to speak“, fragt Dreijer zu vernebelten Sounds, die auf bedrückende Weise nicht von der Stelle zu kommen scheinen. Die Liebe nur noch ein bleicher Geist, der zwischen Bettlaken und Schlafzimmertür herumirrt, die einstmals Liebenden sprachlos. Atmosphärisch völlig anders der eiskalte Dancefloor-Knaller „Even It Out“: Mit quietschender Stimme fordert Fever Ray Gerechtigkeit für ein gemobbtes Schulkind. Hier verzerrt sich Elternliebe in monströse Gewalttätigkeit, man möchte nicht in Zacharias‘ (der angesungene Bully) Haut stecken, denn die wird bald bluten: „Just even it out / And then we cut cut cut cut.“

Wie aus der Perspektive eines Raubtiers

An vier der zehn Songs auf RADICAL ROMANTICS hat Dreijers Bruder Olof mitgearbeitet, die erste Zusammenarbeit der Geschwister seit gut acht Jahren, das Video zu „Kandy“ ist eine schaurige Replik auf „Pass This On“. Eine The-Knife-Reunion ist RADICAL ROMANTICS trotzdem nicht. Als zusätzliche Producer hat Karin Dreijer Trent Reznor und Atticus Ross dazugeholt, außerdem den portugiesischen DJ und Produzent Nídia, Johannes Berglund, Peder Mannerfelt, Pär Grindvik und Vessel. Die illustre Schar lässt jeden Track in anderen (Klang-)Farben schillern, von kaninchenbaudunkel bis schmerzhaft grell, wir befinden uns auf Fever Rays wohlig-gruseligem, stets schlingerndem Terrain.

Mit bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Vocals beschwört Dreijer in „What They Call Us“ vergeblich ihre magischen Kräfte („I tried all the tricks that I can / Cinnamon burnin‘ in the oven“), stotternde Percussion und sirenenartige Soundeffekte erzeugen klaustrophobische Vibes. Die Sirenen werden lauter und drängender im lüstern vibrierenden „Shiver“, ein Lovesong (well …) wie aus der Perspektive eines Raubtiers: Soll man den gefundenen Leckerbissen fressen oder vernaschen? Zur Single „Carbon Dioxide“ kann man zwar tanzen, muss aber aufpassen, im unwegsamen Synthiebeat-Gefecht nicht über die eigenen Füße zu stolpern.

Das ist schon irgendwie romantisch. Aber vor allem radikal.

Überall lauern irritierende Geräusche und Stimmen, deplatzierte Steeldrums sorgen für Fake-Südseefeeling, als befände man sich im Freizeitpark Tropical Island, „New Utensils“ klingt wie Techno ohne Bass. Im Schlusstrack „Bottom Of The Ocean“, das ursprünglich für eine Ingmar-Bergman-Auführung am Royal Swedish Dramatic Theatre konzipiert war, lässt Dreijer sieben Minuten lang die Silbenfolge „Oh Oh Oh Oh“ eine kleine Tonleiter hinauf- und hinunterklettern – das ist schon irgendwie romantisch. Aber vor allem radikal.


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