Jazz
Die so oft totgesagte Crossover-Welle, jene Mixtur aus Jazz mit vor allem Rock, lebt auch anno 1984 genauso unverdrossen wie vielschichtig weiter. Als Paradebeispiel dafür kann Miles Davis gelten, der in den späten Sechzigern“ als einer der ersten das, wie er es einmal nannte, rockjazzige „Hurengebräu“ („Bitches Brew“) kräftig mitanrührte. Der Altmeister bringt mit DECOY (CBS) zwar nichts Neues, zeigt sich aber einmal mehr von seiner besten, weil bluesigsten Seite: zu komplexen Rhythmen, hart rockenden Gitarrensoli und Soundmalereien auf dem Synthesizer steuert er mal coole, schwermütig-verklärt wirkende, dann wieder wild fetzende Trompetenklänge bei. Das Ergebnis ist ein explosiver Cocktail aus freiem Funk, erdigem Rhythm ’n‘ Blues, swingendem Jazz und rasantem Rock. (6)
Ganz schön zurückstecken müssen im Vergleich zwei ehemalige Schüler von Miles Davis: Die DOMINO THEORY (CBS) von Keyboardspieler Joe Zawlnul und Saxophonist Wayne Shorter, den beiden kreativen Köpfen von Weather Report, wirkt reichlich kraft- und einfallslos, strotzt geradezu von simplen Eigenplagiaten und witzlosen Synthesizerspielereien. (2)
Ein weiterer Davis-Kompagnon, der nun auf eigenen Füßen steht, ist Bill Evans. Der junge Saxophonist hat soeben mit LIVING IN THE CREST OF A WAVE (Elektra Musician) seine erste eigene Platte vorgelegt, mit der er sich jedoch noch lange nicht freigeschwommen hat. An allen Ecken und Enden hört man die Vorbilder heraus, denen der Youngster nachstrebt. Dave Liebman, Pat Metheny, Lee Ritenour und Weather Report lassen grüßen. Apropos, auch wenn Evans sich da allzuoft in wohltönenden Klangwelten verliert, frischer und aufregender als die DOMINO THEORY ist sein Debüt trotzdem. (3)
Vergleiche muß sich auch das amerikanische Sextett Shadowfax gefallen lassen. Auf SHADOWDANCE (Windham Hill, TIS) zitieren sie Don Cherry; verbeugen sie sich vor dem frühen Mahavishnu Orchestra und Oregon. Aber bei ihnen überwiegt die Liebe zum Detail den Ruch der Kopie. Ihre zumeist im langsamen bis mittleren Tempo gehaltenen, mal von fernöstlich-folkloristischen, dann kammermusikalischen Einflüssen durchzogenen Klangbilder sind gleichsam zart schraffiert, technisch perfekt und überschreiten hie die Grenze zum Kitsch. (4)
Noch getragener und experimenteller ist die Musik von Mark Isham, der ansonsten in der Band von Van Morrison Trompete und Synthesizer spielt. Unterstützt nur von einem Schlagzeuger, zeigt er sich auf VAPOR DRAWINGS (Windham Hill, TIS) deutlich auch von der Minimal Music eines Steve Reich oder Philip Glass beeinflußt. Seine Soundcollagen sind sehr stimmig, oftmals sphärisch, geprägt von kühlen Computerklängen im Kontrast zu durchaus jazzigen Trompeten-, Flügeihorn- und Sopran-Saxophon-Chbrussen. (5)
Vom Space-Trip zurück auf den Boden eindeutig rock-jazz-funkiger Tatsachen führt das Quintett Slickaphonics, das sich seine zweite LP von John Potoker (dem Mann, der auch am Erfolg von Michael Jackson und den Talking Heads beteiligt war) co-produzieren ließ. Ihm ist wohl zu verdanken, daß MODERN LIFE (Enja, TIS) trotz frecher Texte, guter Kompositionen und dem unbestreitbarem Können aller beteiligter Musiker weniger mitreißen kann als der Erstling. Die glatte und perfekte Produktion hat der Slickaphonics-Fusion viel von ihrer Aggressivität und Unverblümtheit genommen. Weniger wäre hier mehr gewesen. (4)
Verbliebe zum Schluß, aber freilich nicht zuletzt, der deutsche Saxophonist Ulrich P. Lask, der auf SUCHT UND ORDNUNG (ECM) das seit langem intelligenteste in Sachen No Wave präsentiert. Zusammen mit diversen Synthesizern und Computern, dem Schlagzeuger Meinolf Bauschulte und den drei Vokalistinnen Maggie Nicols. Sigrid Meyer und Monika Linges profiliert er sich als einer der besten sogenannten „jungen Wilden“ im Jazz.
Hypnotische Rhythmen, keck swingende Bläserpassagen, einfache, aber dafür um so eindringlichere Melodien und dazu provozierende Texte zwischen Sinn und Unsihn. Paradebeispiel: das hämische „Wir sind ein Kulturvolk“. Ausgeflippt-gut ist dieser Lask Deutschlands wichtigster Punk-Jazzer. (4)
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