Keith Jarrett – Solo Piano – Sun Bear Concerts
Jarrett-Süchtige kriegen hiermit den ganz dicken Schuß verpaßt. Nachdem vom ECM-Bestseller „Köln Concert“ angeblich eine viertel Million Doppelalben umgesetzt wurden, kommt nun eine Kassette mit zehn Jarrett-LPs.
Zehn Platten von ausschließlich einem einzigen Pianisten: Ob da auch ’ne Portion Größenwahn mit unter die Plattenpresse gerutscht ist? Der Verdacht auf Gigantomanie wird allerdings von vornherein entkräftet durch das betont schlichte Design; außen sogar packpapierähnlich, innen fast ärmlich-graue, eingebundene Einzelhüllen; nur 18 (indes einleuchtende) Fotos und kein werbepsychologisches Gesabbel. Von selbst versteht sich, im wahren Innern, in den Rillen, beim mehrfach preisgekrönten Produzenten Manfred Eicher, die untadelige Aufnahmequalität.
Realisiert hatte solch einen monströsen Wunschtraum bislang noch keiner. Nur geträumt hatte ihn mancher. Eine limitierte Kassette von neun Scheiben hat wohl Friedrich Gulda 1973 als „Midlife Harvest“ („Ernte zur Lebensmitte“) herausgebracht; von 20 waren aber zwölf Aufnahmen aus teilweise lange zurückliegenden Jahren.
Auch über Frank Zappa wird gemunkelt, er wolle älteres, bislang unveröffentlichtes Material irgendwann als zehnstöckiges Album herausbringen. Keith Jarretts Sachen aber sind so gut wie brandneu. Aus fünf im Abstand von wenigen Tagen in Japan gegebenen Konzerten (Kyoto 5. November 1976, Osaka 8., Nagoya 12., Tokyo 14. und Sapporo 18. November).
Für jedes Konzert ein Doppelalbum aufzulegen, hätte überlegenswert sein können, doch wäre damit der Gesamteindruck verloren gewesen. Auf den aber kommt es hier vorallem an. Welches das beste Konzert war, läßt sich daher auch weder quantifizieren noch qualifizieren. In den sechsdreiviertel Stunden (die Länge der Seiten schwankt zwischen 9’40“ und 26’24“) ist mir nicht eine Wiederholung aufgefallen. Jene fünf Abende müssen, so man an Astrologie glaubt, unter einem wohlmeinenden Stern gestanden haben – so wohlgelungen, ausgewogen und wohltuend sind sie. „Sun Bear Concerts“ nennt Jarrett das Ergebnis der Tournee: sonnengeboren. Was im Land der aufgehenden Sonne nationalistischbildhaft naheliegt. Mehr aber noch aus musikalisch-ästhetischen Aspekten.
Selbstredend hat Keith Jarrett bestimmte Eigenheiten sonst würde man ihn nicht wiedererkennen. Bei dieser Fülle von Musik wird das natürlich erst recht deutlich. Der typisch weiche, wenn’s drauf ankommt aber auch kräftig zulangende Anschlag auf dem Steinway-Flügel beispielsweise.
Wie er ein Konzert beginnt, ist schon aufschlußreich – meist noch in relativer Ruhe, die aber schon die Spannung kommender Dinge ahnen läßt. Zum Beispiel Tokyo: Sachte geht er’s an, gewinnt nach einer Weile emotioneile Reife. Vitale Melodik und pointierte Rhythmen setzen ein Ausrufzeichen. Behutsamer Wechsel zu einem Liebesreim. Schwere Phantasien folgen, gehen über zum opulenten Wühlen in der Massigkeit des Instruments. Poetisch sucht er, bis er inhaltsschwanger fündig wird, sodann dröhnen gewaltige Akkorde. Über schwer wiegendem Rhythmus singt Jarrett verzwickte Phrasen. Nächste Schritte: verhaltenes Schwelgen, hilflos vorkommendes Sinnieren, ein anmutiger Liebesbrief, Momente von Enthusiasmus, periodisches Geplänkel, abgebrochen vom voll schallenden Klavier. Blitz- und körperzuckend, gewitternd und hagelprasselnd kommt er zum Ende. Frenetischer Beifall. Zugabe ist fällig.
Rhythmische Finessen verhüten Ermüdungserscheinungen beim Hören, denn hat man einmal angefangen, kann man so schnell nicht aufhören. Man badet wohlig in Seen von Schönheit. Da sind liebevoll ausgepinselte Miniaturen in seinem rhapsodischen Denken, neben der Völlerei in Wasserfällen von Farben; Lieblichkeit wechselt ab mit auftrumpfenden, vollhändig gegriffenen Akkorden, die am Bauchfell vibrieren. Angelegentlich überwältigen ihn seine eigenen Schöpfungen derart, daß er mitsummt. Überleitung handhabt Jarrett so sinnfällig, daß sie den neuen Einstieg erleichtern – ja, den Hörer an die Geschehnisse binden. Er rührt auch schon mal in kleinen Töpfen, wenn er, nach Art von Steve Reich etwa, periodische Figuren (allerdings nur einstimmig) entkapselt, woraus neue Ideen sich herausschälen.
Jeder wird natürlich abweichende oder völlig andere Assoziationen erleben. Das ist wie bei einem Spaziergang über Land, wo je nach Blickwendung und Schrittempo die Bilder verschiedene sind. Übrigens ist dem Album eine entsprechende Widmung vorangestellt: „Think of your ears as eyes“.
Nach Japan exportiert wird das Album nicht. Dort erscheint es direkt in Lizenz. Und in den ersten vier Wochen sollen allein dort 10.000 Stück verkauft worden sein.
Eigentlich dürfte die Kassette in keiner ernstzunehmenden Sammlung fehlen: wegen der guten Musik zuallererst, wegen der diskophilen Sonderheit zum anderen, wegen des dokumentarischen Wertes nicht zuletzt.
Natürlich ist das eine Frage des Geldbeutels. Der MUSIK EXPRESS hörte sich mal um: Der Richtpreis beträgt bis Jahresende 1978 zur Einführung 119, ab 1. Januar 1979 dann 149 DM. Der Plattenversender Flash in Unterlüß bietet die Kassette auch noch danach für 119 DM an. Zweitausendeins schickt das Paket ab Frankfurt für 99,90 DM. Knapp unterboten werden die Hessen in München vom Pro-Markt: 99 Mark.