Platten des Jahres 2011 – Platz 4: Radiohead – The King of Limbs

The King Of Limbs

www.thekingoflimbs.com VÖ: 25. März 2011

Auf dem achten Album der Art-Rocker formieren sich die elektro-akustischen Bits & Pieces zu hervorragenden Songs.

Es ist gar nicht sehr lange her, da hat Thom Yorke angekündigt, Radiohead würden in Zukunft keine Alben mehr veröffentlichen, sondern nur noch EPs. The King Of Limbs stellt keinen Wortbruch dar, sondern eine Zwischenstation auf diesem Weg. Klingen diese acht Songs in ihrer Heterogenität nicht eher wie eine Sammlung von Einzeltracks, die zu unterschiedlichen Stadien der Band in den vergangenen Jahren aufgenommen wurden? Und falls ja, was ist so falsch daran? Ist die Spielzeit des Albums von gerade einmal 37 Minuten nicht ein Tribut an den Zeitgeist des Musikkonsumierens, der von immer geringeren Aufmerksamkeitsspannen gekennzeichnet ist? Keine aktuelle Radiohead-Besprechung ohne Hinweis auf die Veröffentlichungspolitik. Fünf Tage vor dem Veröffentlichungstermin (19. Februar) als (diesmal kostenpflichtiger) Download angekündigt, dann doch einen Tag früher auf die Welt losgelassen, was Internetportale zu hastigen Track-by-Track-Besprechungen gezwungen hat, weil es ja darum geht, sich als Erster zu äußern, auch wenn die Äußerungen stets vom relativierenden Hinweis begleitet wurden, man habe das Album ja erst einmal hören können und vielleicht ändere sich ja bei mehrfachen Hördurchläufen die Meinung.

Kid A hallt immer noch nach. Auf der persönlichen Ebene war die Neuerfindung Radioheads im Jahr 2000 sicherlich einem starken künstlerischen Selbstanspruch geschuldet. Radiohead galten als “Britpop”, einem eher der Herkunft  als der musikalischen Ausrichtung geltendem “Genre”. Der Britpop der Neunziger Jahre war vor elf Jahren bereits mausetot. Es war alles gesagt worden, was aus der Sicht der Neunziger über die Gitarrenmusik der Sechziger gesagt werden konnte, dennoch wollten die Protagonisten den Mund nicht halten. Thom Yorke hatte das erkannt. Das Aufregende ereignete sich Ende der Neunziger, Anfang der Nuller nicht im Gitarrenpop sondern in der elektronischen Musik.

Auf einer höheren Ebene war Kid A mehr als das Bekenntnis für eine Seite im mitunter lächerlich wirkenden Lagerkampf Gitarren Vs. Elektronik. Kid A darf als antizipatorischer Kommentar zum Ende der Kunstform Song gelesen werden, das qualvolle millionenfache Sterben des Songs in den Nuller Jahren durch ein Überangebot so genannter Songs, die nie welche gewesen sind, in allen Bereichen von Folk bis Indie.

The King Of Limbs ist der Beweis dafür, dass nach dem sonischen Urknall von Kid A die atomisierten Bestandteile der Songs ein Jahrzehnt lang durch das Musikuniversum geschwirrt sind, um sich jetzt langsam wieder zu Gebilden zu formieren, die man Songs nennen kann. Das achte Radiohead-Album setzt die Tendenz des 2007er In Rainbows fort, die elektronischen und elektroakustischen Bits & Pieces der Vorgängeralben ganz organisch zur Basis von Radiohead-Songs zu machen.

Die Eröffnungsnummer “Bloom”, bei der ein Piano-Loop von einem Marsch-ähnlichen Rhythmus begleitet wird, worüber Thom Yorke seinen ätherischen Gesang legt, ist vielleicht der nächste Verwandte zu den alten neuen Radiohead des Jahres 2000. In der Stakkato-Begleitung zu “Morning Mr Magpie” zeigt Jonny Greenwood, wie die Gitarre bei einer ehemaligen Gitarrenband zehn Jahre danach zu klingen hat. “Feral” mit den dekonstruktivistischen Soundabstraktionen und Yorkes bearbeitetem Gesang verweist in die Gegenwart der elektronischen Musik. Es ist der Kommentar Radioheads zum Post-Dubstep. “Lotus Flower”, der vielleicht beste Song des Albums in einem Song-Sinn, entwickelt einen wunderbaren Groove aus einer prägnanten Bassline und gegenläufigem Schlagzeugspiel. Die düstere Gänsehautnummer “Codex” ist in ihrem Piano-Impressionismus ein naher Verwandter des “Pyramid Song”. “Give Up The Ghost” dann, eine minimalistisch instrumentierte Ballade im Radiohead-Sinn.

Es nicht so, dass sich Radiohead seit Kid A nicht entwickelt hätten, vielmehr haben sich ihre Hörer in ihrer subjektiven Wahrnehmung an dieses Zwitterwesen aus mikroelektronischen Bestandteilen und Songs, das erstaunlicherweise nicht Opfer von Epigonen- und Kopistentum geworden ist, gewöhnt. Und so nimmt der Überraschungseffekt mit jedem neuen Radiohead-Album seit Amnesiac kontinuierlich ab. Die wahre Überraschung an The King Of Limbs aber ist, dass diese Band nach all den Jahren es immer wieder schafft, hervorragende Alben aufzunehmen.

Die offizielle Homepage von Radiohead.