Pretenders – Pretenders II

Realität ist, wenn sich im Viertel herumgesprochen hat, daß die und die mit dem und dem aus dem achten Stock geschlafen hat und doch mit dem aus dem neunten Stock verheiratet ist; und im Friseurladen gucken sie alle zur Seite deswegen. Realität ist, wenn die und die aus dem siebten Stock ihrem Mann die Pfanne mit den Rühreiern umgekehrt auf den Tisch knallt und endgültig die Faxen dick hat.

Realität ist der Traum, den die und die träumt, wenn sie mit dem und dem im sechsten Stock ihre ,21/2 R, 48 m2, KDB“ tapeziert: „Schau dir die Leute an / In der Kneipe auf der Straße / Wir alle wohnen im Ghetto / Manche schauen in den Himmel. / Das Leben ist nicht freundlich / doch es geht weiter / weiter / weiter … aber ICH und DU / jede Nacht jeden Tag./ werden wir Zusammensein / immer so wie jetzt / deine Augen sind blau wie der Himmel da oben. / Talk to me darling/ with the message of love…“ Was ist passiert? – Auf der LP PRETENDERS II hat Chrissie Hynde nach der sophisticated lady, der mit Showbiz und Männergeilheit spielenden Paradefrau (I shut my mouth and you shot me in one of these wholes‘) eine andere Rolle nach außen gekehrt. Die Pretenders sind damit tatsächlich das gleiche geworden, was die Kinks vor fünfzehn Jahren waren: Poeten aus Suburbia, Rock’n’Roll aus der Reihen,‘-Hochhaussiedlung.

Das Album klingt sehr nach Sechziger Jahren – bis hin zu den kratzighalligen Gitarrensounds und den verwaschen klingend Background-Vocals – und es ist trotzdem jeder Atemzug hier und heute. Kein Widerspruch in sich, denn zwischen sechster und neunter Etage hat sich in diesem Zeitraum auch nicht soviel geändert. Es ist alles nur ein wenig deutlicher geworden. Kein Zufall auch, daß unter den zwölf Songs dieser wirklich vollen LP (beide Seiten bringen es auf knapp 50 Minuten) einer von Kinks-Boss Ray Davies stammt: Ganz ähnlich wie schon „Stob Your Sobbing“ ist „Go To Sleep“, ein (diesmal mit Waldhörnern!) wunderschönes Liebeslied im guten alten Decca-Sound. Alle anderen stammen, teils im Text, teils ganz von Miss Hynde, die zum Glück in der neuen Rolle trotz … frisch gewaschener und gut gescheitelter Haare weder etwas von ihrer Variationsfähigkeit in der Stimme und in der Stimmung noch an der Kraft eingebüßt hat, Befürchtungen, die das Cover mit ausgesprochen adrett aufgemachter Vokalisün und Kapelle auslösen, bestätigen sich zum Glück nicht.

Das Album mit seinem sehr englischen Sound hat mir klargemacht, daß die Pretenders wirklich eine Gruppe sind und nicht Chrissie Hynde plus Background-Musiker.

Die Band macht weder den Fehler, sich musikalisch unter Wert zu verkaufen noch spielt sie über ihre Verhältnisse. Insbesondere Honeyman-Scott füllt alle möglichen musikalischen Löcher. Er scheut sich nicht vor absoluten Standards, doch wer erwartet hier schon Avantgarde? Hier geht’s um Popmusik und wie bereits gesagt um Alltag, und man ist ehrlich genug, nicht darum herumzureden.

Unter anderem deshalb ist mir das Ganze ohne Vorbehalt fünf Sterne wert, auch im Bewußtsein, daß mir einige Hardcore-Kollegen dafür den Kopf abreißen werden.