The Grateful Dead :: So Many Roads

„This is the best pari of the trip“, murmelte einst Jim Morrison, Frontmann einer anderen großen kalifornischen Rock-Band ins Mikrofon. 1968 war das, der Song hieß „The Soft Parade“ und drehte sich irgendwie um Leoparden, Kobras und darum, dass da offenbar einer ziemlich mies drauf war. Die Ooors hatten nicht umsonst das Image, den düsteren Gegenpol zu den allgegenwärtigen Hippie-Utopien zu bilden. Jene Hippie-Utopien, die zur gleichen Zeit knapp 400 Meilen nördlich, in San Francisco, tausende freudetrunkener Tänzer hochleben ließen, derweil die Band auf der Bühne nach zehn Minuten vom Intro ihrer ersten Zugabe, „Dark Star“, gerade so halbwegs in den Song gefunden hatte. Grateful Dead, die zweite große kalifornische Rock-Band jener Tage, mochte auch ihre dunklen Seiten haben, doch wenn Jerry Garcia und Konsorten zu ihren musikalischen Höhenflügen ansetzten, regierten Love & Peace und sonst nichts. Warum das so war, und wie sich die Gruppe den Status erspielte, den sie auch heute noch für Millionen von Fans in aller Welt hat, lässt sich jetzt trefflich auf SO MANY ROADS nachvollziehen, einer 5-CD-Box mit komplett unveröffentlichem Material, die auch – im Gegensatz zu einigen Folgen der DICK’S PICKS-Serie – mit bestmöglicher Klangqualität aufwartet. Und mit einem Booklet, das allein fast die Hälfte des stolzen Anschaffungspreises wert ist. Namhafte Journalisten, unter anderem von „Time Magazine“ und „Village Voice“, haben Essays verfasst, die eine Fülle von Informationen bieten und gleichzeitig eine Menge Atmosphäre transportieren. Dazu kommt ein Deadhead zu Wort, gibt es Songby-Song-Anmerkungen und Notizen zur Auswahl der insgesamt 52 Stücke. Womit wir (endlich) bei der Musik wären, diesem wundersamen Amalgam aus Rock, Blues, Folk, Jazz und Country: Angefangen von ersten Demos noch unter dem Warlock-Banner („Can’t Come Down“,“Caution“) über bluesige Exkursionen GJhe Same Thing“) und frühe Glanzstücke („Dark Star“ natürlich, „That’s It For The Other One“) bis hin zu jüngeren Highlights – „Bird Song“ mit Jazz-Koryphäe Branford Marsalis am Saxophon oder dem im Juli 1995, beim letzten Konzert vor Jerry Garcias Tod aufgenommenen „So Many Roads“ – ist dies ein fast sechseinhalb Stunden langes, chronologisch geordnetes Rundumglücklich-Paket. Altgediente Deadheads werden sich mit dem Teil wochenlang eingraben und irgendwann wieder mit seligem Lächeln und glühenden Ohren aus der Versenkung auftauchen, werden strahlend vom „Watkins Glen Soundcheck Jam“ berichten oder von jenem Zauber schwärmen, der sich einstellt, wenn ein ellenlanges Intro-Geklapper.das klingt, als würde es in ioo Jahren kein Song, in das fantastische „Days Between“ übergeht. Sie werden immer wieder hören wollen, wie Jerry Garcia bei einer Probe anno 1993 plötzlich beginnt, das irische Volkslied „Whiskey In The Jar“ zu spielen und die anderen nach und nach einsetzen. Novizen dürfen unterdessen den sanft pochenden Disco-Groove von „Shakedown Street“ genießen oder beim Blues-Beben „Death Don’t Have No Mercy“ spüren, wie sich die Härchen am Arm wie zum Salut aufstellen, während Garcia, Weir und Mydland kurz „I Put A Spell On You“ zitieren. Wer all das für zu episch-ausufernd hält, kann sich gern an „Believe It Or Not“ halten, einen BUILTTO LAST-Outtake, an „Eternity“, eine Kollaboration von Bob Weir mit Willie Dixon und Rob Wasserman, oder an die Garcia-Hunter-Großtaten „Lazy River Road“ und „Liberty“. Wie so oft darf man sich wieder einmal wundern, welch exquisites Material da jahrelang in dunklen Ecken verstaubte. Was nicht heißen soll, dass hier ein Geniestreich den anderen jagt. Natürlich führen manche allzu breit angelegten Improvisationen schnurstracks in eine Sackgasse, natürlich hat die Dead-Version des alten Neville Brothers-Klassikers „Hey Pocky Way“ nicht den polyrhythmischen Dampf des Originals, natürlich strotzt die 13minütige Suite „Terrapin Station“ auch in der Uve-Version nicht vor Leben (selbst wenn sie im Vergleich mit der Studiofassung aufblüht). Nur: Was bedeuten kleinliche Nörgeleien angesichts der Tatsache, dass diese grandiose Box das wahre Vermächtnis einer Band darstellt, die nicht immer groß war, aber stets einzigartig? So viel Musik. So viele Träume. So viele Straßen. Wie Jim sagte: „This is the best part of the trip.“