The John Lennon Anthology :: Freigeist

Ab 1968 neigten sich John Lennons Jahre als Hälfte des erfolgreichsten Songwriterduos aller Zeiten langsam gen Ende. Vorüber die Ära der kreischenden Fans, endlosen Tourneen, monatelangen Studiotüfteleien und eines aristokratischen Lebensstils unter den Augen der Öffentlichkeit. Zur Vergangenheit zählte auch die vermeintlich untrennbare Viersamkeit aus Liverpool, die von Medien, Kollegen und Anhängern über knapp sieben Jahre als Maßstab aller Dinge betrachtet wurde, aber in der Endphase den Kreativitätsprozeß immer schwieriger gestaltete. John Winston respektive Ono Lennon wagte sich nach George Harrison als zweiter der Fab Four aufs glatte Soloparkett. Seine Post-Beatles-Werke mögen nicht gerade zu den signifikantesten und musikalisch besten Arbeiten der Popgeschichte zählen. Doch als entwicklungsbedürftiger Künstler, Intellektueller und nicht zuletzt Mensch durchlief er seine wichtigste Lebensphase – von Drogen befreit, vom FBI der kommunistischen Umtriebe verdächtigt und schließlich als Hausmann und Vater tätig, der sich liebevoll um Sohnemann Sean kümmerte. Als Ehefrau, Ersatzmutter, Beraterin, Muse und Psychologin stets an seiner Seite: die japanische Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, von vielen gehaßt, und dennoch Johns tragender Eckpfeiler, unersetzliches Lebenselixier und kreative Zuflüstererin. Nach all den irrwitzigen Soundexperimenten der späten Beatles-Ära sind Lennons Solojahre musikalisch durch Ökonomie und Simplizität gekennzeichnet. Nicht mehr die Musik, sondern die Botschaft stand von nun an im Vordergrund – von den ROCK ‚N‘ ROLL-Sessions mit Phil Spector mal abgesehen. Bis zu seiner Ermordung 1980 entstanden im Studio, auf der Bühne, zu Hause und auf Reisen nahezu sooTapes. THE JOHN LENNON ANTHOLOGY gräbt sich auf vier chronologisch geordneten CDs mit Alternativ-Versionen, Livetracks, Work-In-Progress und Heimaufnahmen tief in die kreative Vita Lennons der letzten zwölf Jahre ein. Doch entgegen Yoko Onos im Booklet geäußerter Hoffnung, daß via ANTHOLOGY möglichst viele junge Hörer Lennons Werk entdecken mögen, dürften sich wohl hauptsächlich Fans jenseits der Dreißig für die 94 bislang unveröffentlichten Songs interessieren. Aspiranten mit schmalem Geldbeutel sei der auf eine CD komprimierte Appetithappen WONSAPONA-TIME empfohlen, wobei eine Tatsache allerdings noch immer Gültigkeit hat: Die Originalalben vermitteln Lennons spirituelles Universum weitaus konkreter. Was sollten Unkundige auch mit einem frühen, fast nackten Take von „Working Class Hero“ inklusive Gitarren-Tuning, fadem Studiodialog zwischen John und Yoko sowie Fade Out mit dem Song „Well, Well, Well“ schon groß anfangen? Auf ebenso wenig Interesse dürften die meist auf zickiges Studiogeschnatter reduzierten Sessions mit Phil Spector stoßen. Johns ironischer Reim auf McCartneys „Yesterday“ („I’m not half the man I used to be… Because now I’m an amputee“) oder die Satire auf Dylans „Knocking On Heaven’s Door“ („Lord take this make-up off of me“) präsentieren zwar Lennons zynischen Humor, doch so richtig amüsieren können sich darüber wohl nur jene Zeitgenossen, die ohnehin schon Lennons Gesamtwerk im Plattenschrank stehen haben. Mit Bob Dylan geriet der nimmermüde Agitator gegen alles Konforme und Traditionelle 1979 noch einmal aneinander: Auf „Serve Yourself“, einer im Liverpool-Akzent vorgetragenen Schimpftirade, wettert der überzeugte Atheist gegen den just zum Christentum konvertierten Dylan und dessen Song „Gotta Serve Sombody“. Bislang ungehörte Demofassungen von „I’m The Greatest“ und „Goodnight Vienna“, die Lennon für Ringo Starr verfaßte, sind hörenswert und unterhaltsam, was gleichermaßen für die Stripped Down-Versionen von „Nobody Loves You When You’re Down And Out“, „Whatever Gets You Through The Night“ oder „Mind Games“ gilt. Dennoch kann keiner der Alternativ-Takes mit dem jeweiligen Original aufnehmen. Statt dessen regiert das Fan-Futter: Drollige Dialoge mit dem dreijährigen Sohn Sean präsentieren Lennon als gereiften Familienvater und Ehemann, satirische Selbstzitate knüpfen inhaltlich an sein literarisches Debüt von 1964, „In His Own Write“ an, und bisweilen vertont Lennon auch die Texte seiner aktuellen Tageszeitung. Nach über vier Stunden Spielzeit macht allerdings eine Tatsache betroffen: Ein potenter Künstler und kritischer Freigeist wie John Lennon gilt im Wertesystem der heutigen Popmusik nur noch als Auslaufmodell. Und ein Nachfolger ist nicht in Sicht.