The Sixth Sense :: Start: 30.12.

„Ich sehe tote Menschen. Etwa nach 40 Minuten fällt der Satz, der das Blut gefrieren lässt.40 Minuten, in denen M. Night Shyamalan den Zuschauer ganz allein gelassen hat mit sich, dem Kinderpsychologen Dr. Malcolm Crowe und seinem kleinen Patienten Cole Sear. 40 Minuten, in denen nie so ganz klar wird, was und wohin zum Teufel THE SIXTH SENSE eigentlich will. Ein wenig entseelt gleitet die bedeutungsschwangere Kamera von Tak Fujimoto bis zu diesem Zeitpunkt durch das gespenstische Ambiente, ohne sich recht entscheiden zu können, was Sache ist. Geht es um den Schuldkomplex des Psychologen, der im Jahr zuvor von einem ehemaligen Patienten (Donnie Wahlberg furchterregender, als er es zu New Kids On The Block-Zeiten jemals hätte sein können) vor dessen Suizid angeschossen wurde und dessen Ehe seither auf Eis liegt? Oder steht der Junge im Mittelpunkt, der in ständiger Panik lebt, weil er offensichtlich von etwas Übersinnlichem verfolgt wird? Oder ist seine Angst nur eine Projektion, um die mögliche Misshandlung seiner alleinstehenden Mutter zu kompensieren? Fragen, Fragen und ein merkwürdiger Film, der nicht mit den Antworten herausrückt. Dann kommt’s. „Ich sehe tote Menschen“, offenbart der Junge zögerlich sein Geheimnis. Und auf einmal ist alles klar, verdichtet sich allesauf diesen einen Punkt. Und fortan siehtauch der Zuseher jene tote Menschen, die nicht wissen, daß sie bereits tot sind, und man wünscht sich, alles wäre wieder so unklar und unbestimmt wie vor dem Filmsatz des Jahres. Denn THE SIXTH SENSE ist der mit weitem Abstand beste und effektivste Gruselfilm der letzten Jahre, der da ansetzt, wo THE BLAIR WITCH PROJECT aufgrund seiner konzeptionellen Limitierungen nicht mehr weiter kann: ein DER EXORZIST fürs New Age, für die, die schon alles gesehen haben. Jan De Bont setzt in DAS GEISTERSCHLOSS auf Effektegewitter, auf andauerndes Crescendo, weil er glaubt, dass mehr Schock automatisch auch mehr Grusel bedeutet, und ahnt nicht, dass er damit allen Schrecken egalisiert. Shyamalan kommt in THE SIXTH SENSE mit Ausnahme von eisigem Atem ohne einen einzigen Effekt aus, aber seine mit einem Maximum an Ökonomie und Bedacht erzählte Geschichte aus dem Schattenreich geht durch Mark und Bein, weil er weiß, dass nichts schrecklicher ist als die Stille. Es hilft, einen sensationell zurückhaltenden,fast introvertierten Bruce Willis als Star zu haben, der die Größe hat, das Feld dem atemberaubend intensiven zwölfjährigen Joel Haley Osment und seiner Oscar-würdigen Leistung zu überlassen. All das trägt zu einem subtilen Horrorfilm der Spitzenklasse bei, ist aber längst nicht des Pudels Kern. Denn erst die Enthüllung, warum die Kamera während des gesamten Films geradezu obsessiv über Türen und Türknaufe streift, lässt Emotionen wie einen Sturzbach hervorbrechen, steuert die gesamte Story auf gänzlich unerwartetes Terrain. Ein Triumph des (Grusel)geschichtenerzählens – ein Meisterwerk zum Jahresschluss. Start: 30.12.