Interview

Skunk Anansie über Kindheit: „Ich musste sehr schnell erwachsen werden“

Eine sehr intime Story über die Kindheit von Skin und ihr schwieriges Verhältnis zur eigenen Mutter.


Die Kindheit, so beschreibt es Poet John Betjeman, misst sich in Geräuschen, Gerüchen und Augenblicken, „bevor die dunkle Stunde der Vernunft anbricht“. Für Deborah Anne Dyer alias Skin begann diese Stunde früh. Für ihre Tochter schwebt ihr ein anderes Schicksal vor.

Du hast mit 54 eine Tochter bekommen. Was geht dir durch den Kopf, wenn du sie heute ansiehst?

SKIN: Sie ist gerade tatsächlich das Einzige, was mich vom Verrücktwerden abhält. Politisch gesehen sind wir gerade in einer schlimmen Situation. Die Trump-Administration hat das Gleichgewicht der Welt verschoben, was Demokratie angeht. Und was in Amerika passiert, hat ein Echo auf der ganzen Welt. Länder, die eh schon in eine autoritäre Richtung lehnen, werden nun noch zusätzlich ermutigt. In meinem Leben habe ich so etwas noch nie erlebt, da muss ich länger zurückdenken. Als Trump wiedergewählt wurde, hat meine Tochter mich gefragt: „Warum ist Mama so traurig?“ In dem Moment wusste ich: Um die nächsten Jahre zu überstehen, muss ich mein erwachsenes Ich vorübergehend von meinem freudvollen spirituellen Selbst trennen. Um meiner Tochter willen. Das Negative muss ich ausblenden. Und gleichzeitig nicht vergessen, dass sie als dunkelhäutiges Kind zweier lesbischer Frauen genau das sein wird, was diese Menschen angreifen wollen.

Wie kann man sich deine Kindheit vorstellen?

Ich musste sehr schnell erwachsen werden. Ich habe drei ältere Brüder, meine Mutter war alleinerziehend, und unsere Familie war dementsprechend arm. Mein Vater war immer abwesend. Er hat auf einer Ölbohrplattform gearbeitet, oder für die Royal Air Force oder für die Post. Zu Hause war er selten, weil er keine Lust hatte, sich um uns Kinder zu kümmern. Ich verstehe mich trotzdem gut mit meinem Vater, weil ich weiß, dass er genau wie ich aus einer jamaikanisch-stämmigen Familie stammt. Jamaikanische Familien erziehen ihre Kinder oft in einer gewalttätigen Atmosphäre, worüber Schwarze dann auch gerne Witze machen. Nach dem Motto: „Meine Mutter wollte mich verprügeln, und weil sie den Gürtel nicht finden konnte, hat sie die Bratpfanne genommen.“ Manchmal wurde man sogar mit einem Plüschtier verdroschen, wenn sonst nichts greifbar war. Das ist eine Erfahrung, die alle Schwarzen gemeinsam haben, und diese Gewalt geht meiner Meinung nach zurück auf die Sklavenmeister, deren Verhalten die Schwarzen mit der Zeit psychologisch verinnerlicht haben. Seltsamerweise springt dabei auch eine besondere Art von Humor heraus.

Was meinst du damit?

Jamaikaner sind sehr humorvolle Menschen. Es ist zum Teil aber auch eine Überlebensstrategie, aus allem einen Witz zu machen, egal wie ernst es ist. Außerdem haben Jamaikaner gerne Spaß. Wenn jemand zum Beispiel stirbt, wird neun Tage danach eine riesige Party veranstaltet, bei der jeder ausflippt und einen Haufen Essen vertilgt. Das nennt sich Nine-Night oder auch The Ninth. Jamaikaner lieben das Leben, aber das lässt sich über viele Communitys sagen, die Leid gewöhnt sind. Die jüdische Community zum Beispiel. Juden sind bekannt für ihren Humor, denn sie wissen: Wenn sie nicht lachen, würden sie weinen.

Hast du dich als Kind geliebt gefühlt?

In der Familie meiner Mutter gab es nicht viel Liebe, da ging es eher ums Überleben und um die Vorstellung, dass man Kinder nur durch Furcht erziehen kann. Ich hatte als Kind immer Angst vor Schlägen, genau wie meine Mutter und ihre Mutter vor ihr. Aber anders als sie habe ich diese Kette jetzt durchbrochen. Es mag schwieriger sein, auf die Disziplinierung seiner Kinder zu verzichten, aber lieber tue ich das, als meiner Tochter Angst einzuflößen. Traurig, aber wahr: Ich glaube, meine Mutter hat mich zum ersten Mal umarmt, als sie zu einem unserer Konzerte gekommen ist. Für mich war das ein ganz neues Gefühl. Zu fremden Leuten bin ich bis heute latent abweisend, nur bei meiner Frau und meiner Tochter sieht das völlig anders aus. Die bekommen die ganze Hingabe, die ich selbst nie erfahren habe. Das habe ich aber erst im Nachhinein verstanden. In gewisser Hinsicht bleibt man immer das kleine Kind, das nicht richtig geliebt worden ist. Für meine Tochter werde ich das ändern.

War dir damals klar, warum du geschlagen worden bist?

Nein, nie. Ich ahnte nur, dass ich etwas getan haben musste, was meiner Mutter nicht gefiel. Dazu kam, dass es völlig selbstverständlich war, auch von Onkeln und Tanten geschlagen werden zu können, wenn wir etwas taten, was denen nicht gefiel. Meine Mutter hat als Nachtschwester gearbeitet, und immer, wenn sie morgens nach Hause kam, hat sie uns angeschrien, wir sollten entweder ruhig sein oder nach draußen gehen. Und das haben wir dann den ganzen Tag gemacht. Sie hatte nie eine Ahnung, wo wir uns überhaupt herumgetrieben haben, und sie wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen, wenn sie es gewusst hätte.

Das klingt aber auch wild und aufregend. Ein unbeaufsichtigtes Leben.

Ja, mir hat das eine Menge Spaß gemacht, vor allem in den Sommerferien, wo man völlig unbeaufsichtigt Quatsch machen konnte. Das Zuhause war im Vergleich dazu ein angsteinflößender Ort, an den ich aber ab und zu zurückkehren musste, weil es da etwas zu essen gab und mein Bett dort stand. Das waren eigentlich die einzigen beiden Gründe. Weil wir als Kinder keinen eigenen Hausschlüssel hatten, gab es daheim auch nur Frühstück und Abendessen, nie etwas zu Mittag. Aber wir haben auch nicht viel gebraucht damals.

Glaubst du, dass diese Erfahrungen deine künstlerische Laufbahn geprägt haben?

Unbedingt. Zwischen 14 und 24 war ich sehr rebellisch. Ich habe mich viel in Clubs herumgetrieben und die ganze Zeit Party gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Vergangenheit hinter mir gelassen habe und nur noch das tat, was ich selber wollte. Ich rasiere mir den Schädel, ich ziehe meine Doc Martens an, ich singe in einer Band, ich betrinke mich jede Nacht. Das war meine persönliche Revolte, das Gegenteil des braven christlichen Mädchens mit den ordentlichen Kleidern. Aber jetzt merke ich, dass dieses innere Kind nie weg war. Der Rockstar war die Fassade, nicht umgekehrt.

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Fühlst du dich heute noch manchmal deprimiert?

Also, wenn es nicht gerade um Trump geht? Nein. Es hat lange gedauert, um dort hinzukommen, wo ich jetzt bin. Ich habe Frau und Kind und ein schönes Haus, aber ich werde dieses Jahr auch schon 58. Umso wertvoller ist mir dieses Glück.

Interview und Text: Markus Hockenbrink