Kritik

Taylor-Swift-Doku „Miss Americana“: Welch ein Glück, nicht berühmt zu sein!

Ein Film, der extrem inszeniert und doch auch intim erscheint. Kann das funktionieren?

Taylor Swift sitzt im Pyjama auf dem Sofa, die Beine sind angewinkelt, mit der einen Hand streichelt sie geistesabwesend ihre Katze. Plötzlich ein Anruf, die Sängerin bekommt die Nachricht überbracht, dass ihr Album REPUTATION im Jahr 2018 für keinen Grammy nominiert wurde. „Das ist okay,“ antwortet die Sängerin mit gefasster Stimme, während ihre Gesichtszüge langsam entgleisen. „Ich muss nur eine bessere Platte machen.“ Es ist eine der beklemmendsten Szenen aus der neuen Netflix-Dokumentation „Miss Americana“, denn es entlarvt Taylor Swift als Opfer ihrer selbst: Eine Getriebene, auf der beständigen Suche nach Anerkennung, die nicht nur für ihren eigenen Erfolg, sondern auch für den dazugehörigen Schmerz gesorgt hat.

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„Miss Americana“ startete am 31. Januar 2020 auf Netflix und feierte acht Tage vorher als Eröffnungsfilm des Sundance Filmfestivals Premiere. Der Film beginnt damit, Taylor Swifts Aufstieg vom Südstaaten-Country-Sternchen zu einem der erfolgreichsten Popstars der Welt näher zu beleuchten. Man sieht Originalaufnahmen von Swift als Kind, bei ersten Auftritten – und die berühmt-berüchtigte VMA-Verleihung aus dem Jahr 2009, in der sich Kanye West das Mikrofon schnappte, um öffentlich verlauten zu lassen, Taylor Swift hätte den Preis seiner Meinung nach nicht verdient. „Für jemanden, der sein ganzes Glaubenssystem darauf ausgerichtet hat, die Leute dazu zu bringen, für dich zu klatschen, ist das Buhrufen einer ganzen Menschenmasse eine ziemlich prägende Erfahrung,“ erzählt Swift, die damals mit ihren 20 Jahren noch nicht verstand, dass die Menge nicht sie kritisierte, sondern den Rapper.

In der zweiten Hälfte der Doku befreit sich die Popsängerin allerdings immer stärker von den Konventionen, die ihr als junge erfolgreiche Country-Sängerin auferlegt wurden – und die sie selbst nie traute, aufzubrechen. „Ein nettes Mädchen zwingt den Leuten ihre Meinung nicht auf. Ein nettes Mädchen lächelt, winkt und sagt Danke,“ erzählt Taylor Swift in „Miss Americana“. „Ich war so besessen davon, keinen Ärger zu kriegen, dass ich mir konstant vornahm: Ich werde nichts tun, womit ich bei irgendwem anecken könnte. Aber jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich nicht mehr darauf hören kann, wenn mir Leute raten, ich soll mich aus allem raushalten.“

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Taylor Swift hat endlich zur politischen Stimme gefunden?

Ein Auslöser für diesen Sinneswandel war ein Fall von sexueller Belästigung, für den Swift im Jahr 2018 vor Gericht ziehen musste. „Ich war wütend, weil ich dort sein musste. Ich war wütend, dass Frauen so etwas passiert. Ich war wütend, dass Menschen dafür bezahlt werden, Opfer als Feinde darzustellen,“ fasst die Sängerin ihre Gedanken während des Prozesses zusammen. Nach diesem Vorfall wendet sich Taylor Swift erstmals an die Öffentlichkeit und spricht sich über Instagram gegen die rechtskonservative Texas-Senatorin Marsha Blackburn aus. Es folgt ein Wahlaufruf an ihre Fans, politisches Engagement für den US-„Equality Act“ und der Song „You Need To Calm Down“, der ein klares Statement gegen Homophobie setzt. Was „Miss Americana“ den Zuschauern vermitteln möchte: Hier ist die Geschichte eines weltberühmten Popstars, der endlich zu seiner politischen Stimme gefunden hat.

Doch so einfach ist es nicht. Eines wird bei der Dokumentation nämlich schnell deutlich: „Miss Americana“ ist pure Selbstinszenierung. Alles, was Miss Swift tut, ist bis ins kleinste Detail durchchoreographiert und strategisch geplant. So ist es natürlich kein Zufall, dass der Song „Only The Young“ – dessen Schaffungsprozess im Film dargestellt wird – zeitgleich als Single veröffentlicht wird. Auch leidet „Miss Americana“ unter stark einseitiger Darstellung: Lana Wilson – Regisseurin und Emmy-Gewinnerin für ihren Debütfilm „After Tiller“ – hätte eine zweite Ebene in dem Film schaffen können, in dem sie Swifts Aussagen oder Handlungen hinterfragt. Doch die einzige Person, die in der Doku zu Wort kommt, ist die Sängerin selbst. Taylor Swift verkauft sich als die Heldin ihrer eigenen Biografie.

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Die Wunschhölle, die sich Berühmtheit nennt

Und so möchte man „Miss Americana“ am liebsten als große Marketing-Aktion abhaken und zu den Akten legen – gäbe der Film nicht solch einen erschreckenden Einblick in die Wunschhölle, die sich Berühmtheit nennt. Je weiter die Dokumentation voranschreitet, desto mehr verliert sich das Bild, das man von Taylor Swift im Kopf hatte – als bestverdienende Sängerin der Welt mit ihren leicht-verdaulichen aber genial komponierten Popsongs. Stattdessen entpuppt sich Swift als eine schlichtweg unsichere Frau, die ihr Leben lang für Anerkennung kämpfte und irgendwann realisiert, dass Erfolg vor allem sehr, sehr einsam macht. „Ich hatte bei den Grammys zum zweiten Mal das Album des Jahres gewonnen,“ berichtet Taylor Swift in einer ziemlich unangenehmen Szene. „Und ich erinnere mich an das Gefühl danach: Oh mein Gott, das war alles, was du je wolltest. Du besteigst den Berggipfel, schaust dich um und fragst dich: Was jetzt? Sollte ich nicht jemanden haben, den ich anrufen könnte?“

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Fazit: Die gemischten Gefühle bleiben

Auch diese Selbstdarstellung kann inszeniert und ein strategisch ausgetüftelter Plan sein, um mehr Sympathiepunkte zu sammeln. Oder man lässt den Zynismus weg und wertschätzt Taylor Swift als unglaublich talentierte Songwriterin und höchst ehrgeizige, aber freundliche Person, die nun aus eigenem Leid heraus beschlossen hat, viel benachteiligteren Menschen als ihr selbst zu helfen. Für welche Sichtweise man sich als Zuschauer auch entscheidet, ein Gefühl lässt einen nach „Miss Americana“ nicht los: Die Erleichterung darüber, selbst nicht berühmt zu sein.