Tonio K.


Mit einem grandiosen Debutalbum hat in den USA Tonio K. die Szene betreten – ein mit allen Abwassern gewaschener Rock’n’Roll-Mensch, der schon viele Jahre als namenloser Musiker hinter sich hat und nun auf eine Solokarriere setzt. Eigentlich heißt Tonio K. Steve Krikorian; den Künstlernamen borgte er sich bei Thomas Mann und dessen literarischer Figur Tonio Kroger. Unser New Yorker Korrespondent Stephen Demorest zeichnet ein Porträt von Tonio K.; Helmut Werb steuert ein Interview bei und Hermann Haring nimmt auf den Plattenseiten in diesem Heft Tonios LP „Life In The Foodchain“ unter die Lupe.

Von Zeit zu Zeit bereitet mir meine bürgerliche Erziehung doch noch Magenschmerzen – bei dem Wort ‚Motherfucker‘ etwa,“ gesteht Tonio K.. „Ich habe mitbekommen, wie sich meine Eltern die Platte nebenan bei ihren Freunden angehört haben, und ich versuchte mir vorzustellen, wie sie darauf wohl reagiert haben.“

Wir haben uns an der Ostseite des riesigen Konferenztisches im CBS-Büro ausgebreitet. Der Raum ist so plüschig, daß er jeden Ton schluckt, bevor er die Wände erreicht. Die Nacht hat Tonio im Studio verbracht, um seinen Song „H-A-T-R-E-D“ auf die dringende Bitte von ungefähr 50 US-Radiostationen hin noch einmal zu ändern. Alle wollen den Titel spielen, nur kommen sie alle nicht über die Worte „you motherfucker“, hinweg. „Auf dem Album bleibt der Titel, wie er ist,“ erklärt Tonio, „aber fürs Radio habe ich „you trollop (was soviel wie Nutte bedeutet, Anm.)daraus gemacht. Für mich kommt das ungefähr auf dasselbe heraus.“

Tonio K. ist ein Rock-Veteran, der eine Menge Leute mit seiner ersten Solo-LP „Life In The Foodchain“ aus dem Häuschen gelockt hat. Musikalisch ist das Album so aufregend, wie straight rock’n ‚roll nur sein kann. Was auffällt, sind Tonios bizarre Texte; die gewitzte Doppelbödigkeit, mit der er seine Kommentare auf die Gesellschaft losläßt. Er hat einen ausgeprägten Instinkt für knallige Einlagen: die einzige Keyboard-Passage auf der LP wird von einer Salve bleihaltiger Töne aus einer automatischen NATO-MP ausgelöscht (siehe Interview). In seiner Biografie steht, er sei „eigenwillig, aber liebenswert.“

Wenn dir dieses Album zuviel Kopfschmerzen bereitet, dann nimmst du dir am besten deine Schwimmflossen und paddelst dich auf schnellstem Wege frei. Tonio ist nämlich ein Bewunderer von Dada, einer satirischen Kunstrichtung, in der der provokative Nonsense regiert. Tonio: „Das waren echte Helden; die haben etwas wahrhaft Mutiges gemacht. Die Dada-Bewegung wurde 1916 in Zürich von Fahnenflüchtigen ins Leben gerufen. Die meinten nämlich, wenn 4000 Jahre rationellen Denkens uns in dieses Weltkriegsgeschehen manövriert haben, fuck it, dann laßt uns jetzt irrational sein! Sie haben Zeitungsartikel zerschnitten, die einzelnen Worte in einen Sack geworfen, durcheinandergeschüttelt und dann beliebig wieder zusammengeklebt. Meine erste Begegnung mit dem Dadaismus hatte ich als Teenager in meiner zerstörerischen Phase, wie sie die meisten amerikanischen Mittelstands-Jugendlichen aus lauter Langeweile durchmachen. Ich habe immer Bücher in öffentlichen Bibliotheken zerrissen, dabei fiel mir so ein Dada-Buch in die Hände. Gerade als ich mich darüber hermachen wollte, merkte ich, daß darin ja tierische Sachen standen!“

Diese Erleuchtung überkam Tonio im mittelkalifornischen San Joaquin Valley, wo er die ersten 16 Jahre seines Lebens verbrachte, ehe seine Eltern in die Umgebung von Palm Springs zogen. Irgendwann kam für ihn dort die Zeit der typischen und kurzlebigen Highschoolbands. „Ich kann mich heute bewußt nicht mehr daran erinnern, was vor 1965 musikalisch los war. Als Dylan dann auftauchte, kam plötzlich jeder darauf, daß es immer etwas gab, worüber man schreiben konnte.“

Von 1973 bis 1975 spielte Tonio K. im letzten Aufgebot der Crickets (deren Ur-Formation Ende der 5Oer Jahre Buddy Holly begleitete). „Als sie mich damals fragten, ob ich einsteigen und neues Material mitbringen wolle, stellte ich mir so etwas ähnliches vor wie ich es heute mache. Feh habe gemerkt, daß es nicht viele Rock’n‘-Roll-Gruppen gab, die vernünftige Texte herausbrachten, in denen es mal um etwas anderes ging als immer nur um ihr ‚Baby‘. Es lief aber nicht mit den Crickets. Wir hatten so einen herrischen Produzenten und wurden von der Schallplattenfirma schikaniert, ja sogar vom europäischen Publikum, das immer nur That’ll Be The Day‘ hören wollte. Ein starker Song, aber der Drummer, der noch zur Ur-Besetzung gehörte, war es langsam leid.“

Als sich die Crickets 1976 auflösten, saß Tonio erst einmal herum bis er pleite war; dann kümmerte er sich um einen Verlagsdeal. „Ich schreibe viel – ich bin nämlich ein geschwätziger Hurensohn – und ich habe festgestellt, daß einige meiner Songs ziemlich kommerziell waren. Ich ging damit zu ASCAP und die schickten mich zu Chappell. Dort sagte man mir mitten im zweiten Song: ‚Du solltest einen Schallplattenvertrag abschließen. Allein nicht zusammen mit fünf anderen Neurotikern – was stellst du dir vor?‘ Verdammt, das wußte ich zu dem Zeitpunkt selbst nicht.“

Also begann Tonio mit der Arbeit an „Life In The Foodchain“. „Einige der Songs sind persönlich, aber nicht alle. Übrigens geht es in ‚H-A-T-R-E-D‘ nicht um meine geschiedene Frau! Meine wichtigsten Beziehungen verliefen alle negativ… Ich kenne keinen, der lange mit seinem (Ehe) Partner glücklich war… Wenn Hausfrauen und Kinder nach der Industriellen Revolution ihre traditionellen Rollen so gut es geht weitergespielt hätten, wäre die Familie vielleicht nicht zusammengebrochen – und damit auch die Gesellschaft.“

Den Zustand der heutigen Gesellschaft konnte Tonio bei einer kurzen Frühjahrstour entlang der amerikanischen Ostküste abchecken. Es war ein ereignisreicher Trip! Am ersten Abend, in New Haven, traf er auf ein Publikum, das sich aus so gegensätzlichen Typen wie Yale-Studenten und Motorrad-Gangs zusammensetzte, aber einig war in seiner Begeisterung für Tonio K. & Band. Als sie die Show in Boston über Satellten nach Paris übertrugen, heuerten sie eine französische Studentin von Harvard an, um die übliche Jeanne d’Arc-Show abzuziehen. Und in New York kamen Mitglieder der Revolutionary Communist Party zu Tonio K.. „Aber ich mußte ihnen sagen, daß ich allenfalls ein apolitischer Semi-Anarchist sei.“

Toronto wurde dann eher zum gemischtes Vergnügen. Die Band ging gleich am ersten Abend in einen Strip-Schuppen, wo sich eins der Mädchen plötzlich zu den Klängen von Tonio’s „The Funky Western Civilisation“ auszog. Tonio machte sie später noch an und wurde krank. „Vier Tage lang stand ich unter Penezillin und Robitussin – die stärksten Medikamente, die ich bekommen konnte – aber am Ende des Auftritts wußte ich nicht mehr, ob ich schwebe oder falle, schließlich bin ich in die Arme eines Roadies getaumelt.“

Inzwischen sitzt Tonio wieder wohlbehalten zuhause, macht Pläne für eine Europa-Tournee und hört Radio KROK, wo er hin und wieder eine Gastrolle als Discjockey gibt. In den kommenden Wochen will er außerdem seine zweite LP fertighaben. „Wenn mir nichts besseres einfällt, wird sie ‚Cars, Guitars and Teenage Violence‘ heißen,“ erklärt er.

Hat er noch mehr Kommentare zum Zustand unserer Welt auf Lager? „Ich versuche, mir nichts mehr über Politik anzuhören. Ich kann es einfach nicht ertragen. Ich lese keine Zeitung, und ich habe auch keinen Fernseher. Mir wird im wahrsten Sinne des Wortes schwindlig, wenn ich diesen Scheiß höre; ich bekomme Angstzustände davon. Meine Theorie ist, daß sich 1916 alles radikal verändert hat. Wenn du richtig darüber nachdenkst, erscheint dieser Dada-Versuch fast bemitleidenswert. Aber für mich und eine Menge anderer Zyniker ist das der einzige Weg, um mit unserer Situation fertigzuwerden.“