Vinyl-Special: „Ich erlebe einen regelrechten Plattenladen-Tourismus“


Als Ulf Karge Anfang der 90er keine Lust mehr hatte, sich seine 12-Inch-Maxis aus Berlin zu holen, machte er einfach seinen eigenen Plattenladen auf. Dass es „Kontor Records“ in dem Städtchen Kyritz über 25 Jahre später immer noch gibt, ist ein kleines brandenburgisches Wunder.

Kyritz (an der Knatter) hat keine 10 000 Einwohner, aber diesen Laden: „Kontor Records“. Kaum zehn Fußminuten vom Marktplatz entfernt, im ehemaligen Konsum, in dem Ulf als Kind mit seiner Oma noch Eier, Brot, Milch einkaufen gegangen ist. Ulf Karge ist hier geboren, hatte vor der Wende eine Lehre als Elektromonteur begonnen. Aber Bau und Montagefahrten, die Handwerks-Kollegen… Das war nichts für ihn. Schon lange begeistert von Soul, Funk, Disco, hatte er sich zu dieser Zeit inzwischen zu House vorgearbeitet und als DJ Housewart einen Namen gemacht. So kam er auf die Idee, seinen eigenen Laden aufzumachen.

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Musikexpress: Was war der konkrete Anlass für diesen Entschluss?

Ulf Karge: Ich fuhr 1990, 1991 immer wieder nach Berlin zum Plattenkaufen. Irgendwann hatte ich darauf keine Lust mehr. Und da es auch hier immer mehr Leute gab, die solche Musik auflegen wollten, dachte ich mir: „Da kannste auch gleich selber einen Plattenladen aufmachen.“

Das ging so einfach?

1994 hatte ich alles zusammen, die Kontakte zu den Plattenfirmen, einen Kredit und einen Laden. Und der lief auch sofort sehr gut. Als DJ Housewart war ich vor allem auch Anlaufpunkt für viele andere House-DJs. Die fuhren bis zu 150 Kilometern, bis aus Magdeburg, Rostock, Schwerin, zu mir, um am Wochenende in den Clubs und auf Partys die neuesten Maxis auflegen zu können.

Kamen die Leute auch aus Berlin, dort dürfte die Laden-Konkurrenz ja riesig gewesen sein?

Ja, da kamen auch Leute. Nicht die DJ-Stars, eher die zweite Liga, aber ich hatte eben auch wieder andere Platten als die Berliner Läden. Jeder musste sich ja aus den bis zu 3 000 Maxi-Veröffentlichungen im Monat seine eigenen Einkäufe raussuchen, aus diesen langen Faxen, die man damals geschickt bekam.

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Dein Laden war wirklich komplett auf diese Kundschaft ausgerichtet?

Ja, auf elektronische Musik. Ich habe damals 1 500 Maxis im Monat verkauft. Die Lieferanten haben mir sackkarrenweise die Kartons von Discomania, Neuton, Intergroove und wie die Vertriebe damals hießen reingefahren und die DJs haben sie mir gleich wieder aus den Händen gerissen. Bis dann vor zehn Jahren fast alle DJs der Schallplatte den Rücken gekehrt haben…

…und stattdessen nur noch digitalisierte Musik auflegten.

Genau. Sie mussten plötzlich kein Geld mehr ausgeben, auch keine Plattenkoffer mehr tragen. Und so kamen über Monate immer weniger Kollegen in meinen Laden, bis irgendwann überhaupt keiner mehr auftauchte.

Drohte dem Laden die Schließung?

Ja, irgendwann wusste ich nicht mehr, wie es weitergehen soll. CDs hatte ich zwar auch mit im Angebot, aber die konnte man ja brennen, dann kam die Musik aus dem Internet dazu, Amazon… Bald wusste man überhaupt nicht mehr, gegen wen man alles kämpfen muss.

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Wie hast du überlebt?

Ich habe nebenbei DJ-Veranstaltungen durchgeführt, habe mir Technik-Equipment zugelegt und habe diese Sachen auch verliehen. Das hat mich gerettet.

Irgendwann durftest du aber auch von dem kleinen Vinyl-Boom profitieren, den wir seit einiger Zeit erleben, richtig?

Ja. Diese eine Led-Zeppelin-Box, CELEBRATION DAY, von 2013 – als ich die 80-mal verkaufen konnte, dachte ich mir: Jetzt geht es wieder aufwärts! Auf die Stückzahlen von früher komme ich allerdings lange nicht mehr, aber dafür hat die Vinyl-LP eben ordentlich zugelegt: Wenn ich damals geschätzt zehn Exemplare im Monat verkauft habe, sind es heute vielleicht 400 oder 500. Zusammen mit meinen anderen Geschäftsfeldern kann ich heute ganz gut davon leben. Wobei durch das Corona-Virus aber auch bei mir einiges weggebrochen ist im Veranstaltungsbereich. Jetzt rettet mich also wieder der Plattenladen.

Wie groß ist der Anteil an Tonträgern, den du online verkaufst, durch Ebay und andere Plattformen?

Anfangs habe ich dort ja nur meine alten Warenbestände abverkauft, stellte aber schnell fest, dass auch neue Ware läuft. 80, 85 Prozent meiner Platten verkaufe ich heute online.

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Aber du bist eben nicht nur ein Mailorder. Kyritz durfte bis heute seinen eigenen Plattenladen behalten…

Ja, aber durch den Versandhandel habe ich natürlich ein ganz anderes Sortiment. Viele, die hier reinkommen, staunen Bauklötze, was ich alles so habe an ausgefallenen Sachen, limitierten Ausgaben und besonderen Editionen.

Die Leute, die heute trotzdem noch in den Laden finden, kennst du vermutlich alle beim Namen, oder?

Nein. Im Gegenteil. Die Vinyl-LP-Käufer und -Sammler, meist etwas gesetzter und gediegener, das sind oft völlige Fremde, die auf der Durchreise sind, die fahren schnell mal runter von der Autobahn und kommen hier vorbei. Im Sommer kommen auch Touristen, die in der Nähe Urlaub machen, für einen Tagesausflug. Ich erlebe einen regelrechten Plattenladen-Tourismus. Jeder Plattenladen ist ja auch anders und spiegelt das Wesen des Betreibers wider. Und das wollen sie entdecken und erleben.

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Handelst du auch mit Second-Hand-Ware?

Ja, ich habe auch immer mal eine Haushaltsauflösung oder so, aber meist sind das dann Schlager, Volksmusik oder klassische Musik, seltener Rock und Pop. Das Repertoire, das es zu DDR-Zeiten gab, war ja auch sehr limitiert. Und wenn ich so eine Sammlung kriege, sind das fast immer die gleichen Platten – die Amiga-Sachen, die schon jeder zu Hause hat. Gebraucht macht hier nicht so richtig Sinn.

Und du verkaufst auch immer noch CDs?

Ja. Die Kyritzer können hier alles kaufen. Ich muss ja jeden Umsatz mitnehmen. Auch Zubehör – Bürsten, Ersatznadeln, Antriebsriemen… habe ich alles. Ich bin Vollsortimentler in Sachen Musik.

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Dieser Artikel erschien erstmals im ME 06/20.