Was ist House Music? – Der Sound aus den Lagerhallen von Chicago


Wer nicht weiß, wo er Hits wie „Pump Up The Volume“ oder „Beat Dis“ einordnen soll, steht nicht allein. Die „House Music“, vor drei, vier Jahren in Chicago aus der Taufe gehoben, hält über Nacht nun auch in Deutschland Einzug. ME/Sounds weist den Weg in die „Underground-Disco“.

Ein neuer Tanz-Virus grassiert in Europa. Er hört auf den schlichten Namen „House“ und ist nach dem HipHop der heißeste Dance-Shit. seit es Füße gibt.

Wer in diesen Tagen die internationalen Charts verfolgt, weiß wovon die Rede ist. Eigenwillig klingende Namen wie The Beatmasters, featuring The Cookie Crew (mit ihrem „Rok Da House“) oder Jack V Chili (mit „The Jack That House Built“) Jacken sich unwiderstehlich durch die Positionen nach oben. Aber trotz steigender Popularität weiß nicht jeder unbedingt auch gleich, wo dieses House überhaupt steht.

Vor fast zwei Jahren, im Sommer ’86, wanderten eine Menge House-Platten direkt aus Chicago in die Playlists der wichtigsten europäischen DJs. Der Engländer Stuart Cosgrove. der nach einem Aufenthalt in Chicago als erster Musikjournalist den House Sound für Europa entdeckte, trug viel zu dessen Popularität bei. Innerhalb weniger Wochen, praktisch ohne die Unterstützung der großen Plattenfirmen und Rundfunkanstalten, schössen drei House-Platten in die englischen Charts, die auch heute noch zu den erfolgreichsten dieses Genres gehören: „Love Can’t Turn Around“ von Farley Jackmaster Funk. „Jack The Groove“ von Raze und „Jack Your Body“ von Steve Silk Hurley, das auch auf bundesdeutschen Dancefloors Furore machte.

Diese „Songs“ überraschten durch ihre simple Melodie und den monotonen, durchgängigen und schnellen Beat. Sie waren in Komposition und Produktion geradezu primitiv und vorsintflutlich. Positiv formuliert: Die Musik beschränkte sich auf das Wesentliche und ging deshalb so hervorragend in die Beine. Insider betrachteten den House-Sound nichtsdestotrotz als kurzlebige Variante der Disco-Musik und taten ihn als Papiertiger ab.

Nun. sie müssen sich eines Besseren belehren lassen. Die zweite House-Offensive läuft und läuft und hat

alle Chancen, auch in Deutschland Breitenwirkung zu zeigen. Daß die Nachfrage steigt, beweist u.a. die vor kurzem (auf BCM) erschienene Box THE HISTORY OF THE HOUSE SOUND OF CHICAGO mit 120 House Tracks, die in Maxi-Versionen auf 12 LPs verteilt sind.

Brian Carter, für diese Monster-Compilaiion verantwortlich, hat eine plausible Erklärung für seine Karton-Offensive: „Such den Einzelerfolgen der House-Maxis erhielten wir lausende von Zuschriften, nicht nur von neugierigen DJs, die mehr Informationen und Material von dieser merkwürdigen Musik wollten. Also haben wir uns entschlossen, die eanze Geschichte zu erzählen. In ihrer wirkungsvollsten Art; musikalisch.“

Es ist das großzügig angelegte Dokument einer verrückten, sehr diffusen Geschichte, deren Ursprung nicht auf den Punkt genau lokalisiert werden kann. Stuart Cosgrove. der auch das ausgezeichnete Booklet zur Compilation schrieb, bringt das auf einen Nenner: „House Music ist so jung wie der Mikrochip und so all wie die Berge. „

Die Wurzeln des House Sounds liegen zum einen Teil in der „High Energy“-Bewegung der 70er Jahre, bei den von House-Leuten vergötterten Disco-Dinosauriern wie Gloria Gaynor. Donna Summer und den Gruppen der New Yorker Underground-Disco-Labels wie Prelude. West End und Salsoul sowie den Bobby Orlando-Produktionen, zum anderen Teil bei den europäischen Elektro-Poppern wie Depeche Mode, OMD, Human League und Heaven 17. Auch ein deutscher Name fällt immer wieder: Kraftwerk.

Zu Beginn der 80er Jahre öffneten in den Großstädten der USA eine Reihe von neuen Tanz-Schuppen, oft auch leerstehende Lagerhallen, die vorwiegend von ausgeflippten Street-Kids der Gay-Szene gefüllt und von fanatischen DJs zum Kochen gebracht wurden.

Einer dieser Tanz-Tempel war das Warehouse in Chicago. Einig in ihrer Lust zum Tanzen, war den Akteuren die Energie von High Energy und Techno-Pop nicht mehr genug – und so setzten die DJs dem Ganzen ihre House-Krone auf. indem sie live eine Beat Box zuschalteten und mitlaufen ließen.

Frankie Knuckles als Pionier und als einer der ersten Mix-DJs im Warehouse, mittlerweile als House-Großvater verehrt, erinnert sich: „Als die Nacht ihren Höhepunkt erreichte, machte ich alle Lichter aus. Die Fenster im Warehouse waren schwarz lackiert, die Leute waren high von der Musik und den Drogen. Ich drehte die Bässe der Beat Box voll auf und mischte der Platte den Soundtrack eines Schnellzuges bei. Die Leute schrien, es war eine Mischung von Angst und Ekstase.“

Das Warehouse bildete schnell das Nervenzentrum dieser neuen Tanz-Attacke und gab der Musik das Label. Professor Funk, einer der Stamm-Gäste, der später mit seinem pornographischen Werk „Work Your Body Rap“ für Furore sorgte, zur Situation im Schmelztiegel Warehouse: „Es war wie im Irrenhaus. Tänzer, nackl bis zur Hüfte, zuckten, die Musik war elektrisch. Es ging oft bis zum Sonntagmorgen. Mir kam es vor wie eine Kirche für die Abtrünnigen Gottes.“

Der BCM-Karton dokumentiert diese Phase der House-Geschichte mit zwei LPs unter dem Titel „The Tracks That Built The House“. Darauf gibt es u.a. ein wunderbares Wiederhören mit Colonel Abrams‘ „Trapped“. Jimmy „Bo“ Hornes‘ „Spank“ und dem legendären „Discow Moskow“ von Telex. Allesamt „von House aus“ aufgemöbelt.

Die fanatischen DJs beließen es nicht beim „Einbeaten‘ alter Disco-Klassiker, und so entstanden zu Hause (daher auch der Name) die ersten Tapes. WestBam, einer der ersten House-Freunde in Deutschland, hat Einblick in die Produktionsweisen der ersten originären House-Scheiben: „Der klassische House Sound ist durch spärliches Studioequipment und den unkonventionellen Dilletantismus der DJs, die ja alle keine Toningenieure oder Musiker waren, gekennzeichnet. Eine 808 Roland Beat Box, ein billiger Akai Sampler, ein einfaches Keyboard und ein Baß-Sequenzer – alles zusammen auf ein Acht-Spur-Gerät gemischt, in einem Verhältnis, das jeden Toningenieur zum Kotzen bringen würde. Das machte den House Sound so anarchistisch, machte ihn zum Underground-Disco.“

Die technische Revolution machte es jedem möglich, mit ein bißchen Fantasie und Geschick Musik herzustellen. Der spezifische Reiz in der ursprünglichen House Music lag allerdings darin, daß diese technischen Möglichkeiten genial-dilletantisch genutzt wurden. Und daß in dem durch Drum-Computer zerlegten Euro-Beat das Blut der schwarzen Musik floß.

House Music ist eine Droge. Hi-Hats wie Peitschen. Snare-Drums wie Stromschläge und Baß-Drums wie Preßlufthämmer, alles ohrtravinös in der Geschwindigkeit von rund 120 BpM (Beats per minute) verabreicht, sind die synthetischen Bestandteile dieses Rauschmittels.

Alexander Schreck, Chefredakteur der DJ-Postille „Network Press“, weiß, wie man damit umgeht:

„Auf keinen Fall im Liegen oder Sitzen, beim Essen oder überhaupt nebenbei; House Music muß bei einer Lautstärke, die keine Nebengeräusche mehr zuläßt, ertanzt werden!“

Jack nennt man das. Jack beschreibt nicht so sehr den Bewegungsablauf und die Tanzschritte, sondern ist Ausdruck für die Raserei und die Körperzuckungen der Tänzer. Alexander Schreck: Jack bedeutet für House genausoviel wie Pogofür Punk.“

Aber House hat keine ideologischen Mauern. Es ist mehr der musikalische Ausdruck eines Lustgefühls denn die musikalische Antwort auf gesellschaftliche Verhältnisse, auch wenn House-Leute wie Tyree Cooper Reden von Martin Luther King mit einsampeln. House kennt daher auch keine Helden und Heldenposen, keine Live-Auftritte und schon gar keine Mega-Stars.

House, in seinem primitiven Stadium, eignete sich hervorragend als Basis für viele Spielarten und weitere House-Mixes. In Chicago wurden nach zahlreichen House-Veröffentlichungen auf Kleinst-Independent-Firmen, die oft nur eine Produktion überdauerten, die Label DJ International und Trax gegründet, die auch heute noch als Independent-Firmen bestehen, da House in Amerika (im Gegensatz zu HipHop) immer noch kein Massenthema ist.

Als die Klassiker dieser Firmen gelten Farley Jackmaster Funks „Love Can’t Turn Around“, Marshall Jeffersons „Move Your Body“, J. M. Silks „Music Is The Key“ und „Shadows Of Your Love“, die auch durch den souligen Gesang und dessen Gewichtung beim Mixen zum Deep House gerechnet werden.

In New York entstand um den Paradis Garage Club eine neue House-Szene. DJ-Produzenten wie Jellybean, Larry Levan, Arthur Baker und Walter Gibbons setzten neue Akzente, heißblütige House-Caballeros wie Ralphi Rosario, Mario Diaz, Mario Reves und Julian „Jumpin“ Perez mischten mit ihrem „Latin House“ südliches Temperament hinein. Jüngere wie Adonis machten House noch frecher, in Detroit experimentierten Nude Photo als Post-Kraftwerker – dem House-Ausbau waren keine Grenzen gesetzt. Das Criminal Element Orchestra setzte sehr wirkungsvoll das Schlagzeug wieder ein, Farley und besonders die House Master Boyz & The Rüde Boy Of House wetteiferten auf dem genialen „House Nation“ mit Flipper, indem sie ihre Stimmen so schnell wie Stahlkugeln im Dauerstreß sampelten.

Und dann schwappte die House-Welle nach England. Brian Carter betitelt diese Entwicklung auf zwei LPs seiner House-Box mit „The Anglo-American House“. Andere bezeichnen die House-Musik von der Insel als „British House“.

Für WestBam hat dieses Zeugs überhaupt nichts mehr mit House zu tun: „Ich weigere mich, diese Musik als House-Sound zu bezeichnen. Es ist lediglich vom House-Sound beeinflußt oder analog aufgebaut.“

Alexander Schreck unterscheidet so: „Im Gegensatz zu den House-Sounds aus Chicago, bei denen man oft das Gefühl hat: Der Rhythmus ist prima, aber mit der Melodie hätten sie sich mehr Mühe geben können, setzen die Engländer Melodie und Rhythmus gleichberechtigt ein. Außerdem wird sorgfältiger produziert. Dabei verliert House allerdings seinen dreckigen, anarchistischen Charme, aber in die Beine ->eht das trotzdem.“

In London selber spielte House bisher neben HipHop und Rare Groove in den Clubs nur eine untergeordnete Rolle. Aber in den Städten des englischen Nordens entwickelte sich eine House-Szene, die den ursprünglichen Sound aufgriff oder wie Mike Pickering, der als House-DJ im „Hacienda“ in Manchester auflegt und auch produktionstechnisch hinter T-Coy steckt, etwas Eigenes, sehr Hartes entgegensetzte.

Rein kommerziell gesehen, wurde House in England sogar erst richtig erfolgreich. Erfolgreicher noch als HipHop. Wobei in englischen und vor allem deutschen Clubs House und HipHop gleichberechtigt nebeneinander aufgelegt werden.

WestBam weiß auch, warum: „In Amerika sind das zwei verschiedene Szenen mit unterschiedlicher Lebensphilosophie: House ist die Musik der schwarzen Gays – und HipHop die der schwarzen Street Kids, die die Gays etwas herablassend behandeln. Hier in Europa fließt das unvoreingenommen und ohne kulturellen Hintergrund in den Discos zusammen.“

Auch auf Platte. Die Engländer mit ihrem Gespür für kommerzielle Popmusik schafften mit „Pump Up The Volume“ und dann „Bomb The Bass“ die ersten Crossover-Titel, die sich prompt in die obersten Chart-Ränge pumpten. Vom Steady-Beat her als House – und von der Sample-Technik als HipHop angelegt, kamen diese Songs bei allen an.

House wurde einerseits kommerzialisiert, beeinflußte andererseits aber auch die moderne Popmusik. Stock, Aitken, Waterman können diese Roots nicht verbergen – und so präsentiert der BCM-Karton ihre Mel & Kim-Produkte ebenso wie die englischen Bands Kissing The Pink und Mirage, die einem Warehouse-Freund sicherlich nur ein müdes Lächeln abgewinnen können. Viele Popgruppen lassen sich einige ihrer Maxis auch im House-Sound remixen; eine ganze LP erzählt davon.

Während House auf der einen Seite durch Kommerzialisierung etwas verschwimmt, erfährt es auf der anderen Seite eine neue, psychedelische Variante: Acid House, das (neben dem orientalischen Experiment „Mohameds House“ von Sheik Fawaz) für Stimmung in der Szene sorgt.

Noch brutaler, noch monotoner und hypnotischer knallt der Sound der Acid-Trance-Dance-Tracks von BamBam und Jamie Principle den House-Freunden um die Ohren und macht die Lust am Tanzen noch mehr zu einem Rausch. In Berlin wird gerade mit „I’m Jackpot“ von Pophouse noch eine Variante gepushed: Heavy House. Ein Ende dieser Spielereien ist nicht in Sicht.

Im Zuge von House kam auch eine neue Party-Mode nach Deutschland. In einigen Großstädten veranstalten bereits House-Freunde und House-Frauen, mehr spontan als geplant, sogenannte House-Parües: Räume werden angemietet, berühmte DJs aus London oder sonstwo engagiert, fürs Trinken und Sanitäre gesorgt und abgetanzt.

Denn wie sagte Frankie Knuckles:

„Wenn du nach House nicht tanzen kannst, bist du schon tot.“

Und wer ist das schon gerne.

DAS HOUSE LEXIKON

HOUSE: Der Name bezieht sich zum einen auf das „Warehouse“ in Chicago, zum anderen auf das primitive Equipment: „House Music“ kann man auch zuhause machen. JACK: so heißt der Tanz. Er bedeutet so viel wie: hochheben, sich winden, sich hochschrauben. Gemeint sind die Zuckungen, die einen beim Tanzen überkommen. GARAGE: ist der New Yorker Ausdruck für „House“. Bezieht sich auf die „Paradise Garage“, eine Disco, in der überwiegend „House“ gespielt wird. BEAT BOX: ist die Rhythmus-Maschine, der pulsierende Grundstock von „House“. DEEP HOUSE: ist „House Beat“ plus Soul-Gesang. LATIN HOUSE: ist „House Beat“ plus Latino-Rhythmen. BRITISH HOUSE: bezeichnet die lokale Weiterentwicklung des Chicago „House Sound“. ACID HOUSE: ist „House Beat“ plus Psychedelic. ORIENTAL HOUSE: ist „House Beat“ plus orientalischer Folklore. HEAVY HOUSE: ist „House Beat“ plus Gitarre. HOUSE PARTY: ist die Alternative zur Disco. Man mietet sich einen Laden, angelt steh einen Stor-DJ und macht Flüsterpropaganda. Allein in Berlin wurden in den letzten Monaten über zehn „House Parties“ gezählt.