Woodstock


Im August 1979 jährt sich das Ereignis zum zehnten Mal: Woodstock, Name des Mammutfestivals. Name auch einer imaginären Nation, die längst in alle Winde zerstreut ist. Nostalgie und Über-Interpretationen haben Woodstock zum Mythos gemacht, zumal hier in Europa, wo die meisten Leute dies alles ja bloß vom Hörensagen kennen. Wolfgang Bauduin versucht, mal ein bißchen Spreu vom Woodstock-Weizen zu trennen und den Mythos zu knacken. Denn Mythen sind gefährlich, gerade zehn Jahre danach...

Ich bin Farmer… (starker Beifall)… ich weiß nicht, wie man zu einer solchen Menge Gleichgesinnter Leute spricht. Dies ist die größte Menschenmenge, die sich je an einem Ort versammelt hat. Ich denke, ihr Leute hab der Welt damit etwas bewiesen: daß eine halbe Million Jugendlicher zusammenkommen kann, um drei Tage Spaß und Musik zu haben – und nichts als Spaß und Musik. „(Max Yasgur, gestorben Anfang 1973 in Florida)

„…als wir nach Woodstock kamen, waren wir eine halbe Million stark, und überall war da ein Song und eine Feier… “ (Joni Mitchell im Song „Woodstock“)

„Du willst in die Zukunft sehen? Putz unser Festival nicht ‚runter, nächstes Jahr zu dieser Zeit, Mann, dürften zehn Millionen zusammenkommen.“ (Eric Burdon in „Up In Woodstock“)

Auch ohne Beugung der Chronologie kann man Woodstock heute als exakte Mitte einer zwanzigjährigen Entwicklung sehen: 1959 markierte das Ende des Rock’n’Roll, mit dem manches anfing, das meiste allerdings erst angerissen wurde. 1979 ist das Jahr, in der die Rockmusik sich nach Punk und diversen Waves wieder konsolidiert hat; in dem zwar keine merkbare Entwicklung abläuft, aber enorm viel gute Musik erscheint; in dem die unterschiedlichsten Stile vom Blues über Disco bis Reggae einträchtig nebeneinander und gelegentlich gar miteinander existieren. Und dazwischen liegt nun Woodstock, die Heerschau dessen, was sich bis dahin entwickelt hatte und zugleich die vage Aussicht auf das, was später kam. Woodstock als Angelpunkt? Oder gar Wende-Punkt? Um das zu bejahen, müßte man die Geschichte schon mächtig zurechtbiegen, denn ein dreitägiges Festival allein ändert nicht die Rockmusik.

Im Gegenteil: dort manifestiert sich höchstens etwas, als kleiner Ausschnitt eines Ganzen. So gigantisch, faszinierend, weltbewegend und unbegreiflich Woodstock auch gewesen sein mag – insgesamt war’s bloß der Kulminationspunkt einer Bewegung, die 1965 begonnen hatte und streng genommen noch älter war. Zum einen nämlich kannte man Musikfestivals in Newport/Rhode Island schon lange, seit 1954 für Jazz, seit 1959 für Folk. Okay, dies waren nur Musifc-Festivals auf einer sachbezogenen Ebene. Aber auch jene anderen Meetings, bei denen man sich was dachte, auf denen Musik nur ein Teil der Aktionen war, sind älter als Woodstock. Man nannte sie damals Be-In oder differenzierter Sit-In, Love-In oder Was-weiß-ich-wie

„Do you believe in magic

In a young girl’s heart

How the music can free her

Whenever it Starts

And it’s magic

If the music is groovy

It makes you feel happy like an old time movie

I’ll tell you about the magic And how to free your soul… „

(Lovin‘ Spoonful in „Do You Believe In Magic“)

Als die Lovin‘ Spoonful aus New York, die wahrscheinlich die entspannteste Musik der sechziger Jahre gespielt haben. 1965 besagte magic of the music beschworen, kannte man die amerikanische West Coast höchstens durch die Beach Boys und die Byrds. Und als Woodstock geplant wurde, gab’s die Lovin‘ Spoonful schon längst nicht mehr -Spoonful-Chef John Sebastian trat allerdings in Woodstock solo auf.

Die Magie der Rockmusik aber, ihre verbindende und teilweise sogar richtungsangebenden Aspekte waren wesentlich für die Reise bis Woodstock. An der San Francisco Bay, speziell im heute eher beschaulich wirkenden Studentenviertel von Berkeley, sammelten sich zuerst Insider mit – über den Daum gepeilt – gleichen Anschauungen: Ken Kesey (der Autor von „Einer flog übers Kuckucksnest“) und seine Merry Pranksters (vergnügte Gaukler) veranstalteten ziemlich als erste größere Be-Ins, bei denen lokale Rockbands auftraten: die Charlatans, Jefferson Airplane oder die Warlocks, die sich später Greateful Dead nannten. Innerhalb von anderthalb Jahren wuchs diese Bewegung derart an, daß sich im Januar 1967 in San Francisco’s Golden Gate Park rund 20.000 Leute zum „Gathering Of The Trips“ versammelten. Begriffe wie Open Air und Free Concert machten die Runde. Eingeworfen wurde gern und oft, solange die Trips Halluzinationen erwarten ließen.

Und da beinah naturgemäß in den USA das meiste zuerst in Kalifornien passiert, gingen von hier auch viele Initiativen aus, die mit dem Umfeld von Woodstock etwas zu tun hatten. Während wir hier in Europa erst 1967 etwas von Hippies hörten, behaupten Kenner, diese Chose sei in San Francisco schon ein Jahr früher zu Ende gegangen. Und überhaupt: Hippie! Die Bewegung der Prä-Woodstock-Nation setzte sich aus vielfältigen Gruppierungen zusammen, von denen die Hippies bloß eine, nicht genau abzugrenzende darstellten. Kleidungsstil, Haartracht, Lebensführung und -einstellung galten als die Kriterien, mit denen sich die Hippies von tradierten Vorstellungen lösen wollten. Ihren Namen hatten die Hippies von hip abgeleitet, was das Gegenteil von square, also bürgerlich, konservativ und spießig, bedeutete. Jedenfalls, mit den butterblümchenbekränzten Heroen a la Scott McKenzie („…be sure to wear some flowers in your hair“, wenn du nach San Francisco kommst) oder den lustigen Fotos in unseren Illustrierten hatten die Hippies ursprünglich wenig gemein. Ihre Sache war aber endgültig den Bach runter, als Hippie sehr bald zum Synonym für „langhaariger Nichtstuer“ geworden war.

„There’s something happening here.

What it is ain ‚t exactly clear.

There’s a man with a gun over there

Telling me I’ve got to beware…

I think it’s time we stop, children,

And watch that sound Everybody look what’s going down“

(Steve Stills/Buffalo Springfield in „For What It’s Worth“)

Stills hatte diesen einzigen Hit der Buffalo Springfield anläßlich von Straßenkämpfen geschrieben, die sich Ende 1966 in Hollywood zwischen Hippies und Polizei abspielten. Der Song war nur ein Hinweis auf die zunehmende Militanz, mit der Tante Law und Onkel Order den unheimlichen Strömungen begegneten. Doch weniger die eigentlich unpolitischen Hippies machten den Squares zu schaffen. Denn da gab’s natürlich auch all jene politisch mehr oder weniger Aktiven, die man damals wie heute „Linke“ nennt und deren Hauptmerkmal seit jeher leider die Tatsache ist, daß sie Einigkeit als Fremdwort betrachten. Und die waren eigentlich gefährlicher, trotz allem.

Wer alles aber galt als links? Zum Beispiel Jack Weinberg, der im April 1967 bei einer Veranstaltung des sogenannten Free Speech Movement den Slogan-Klassiker „Trau keinem über 30“ gebar und damit den Generationskonflikt, der ja nicht neu war, wie ein Werbemotto zusammenfaßte. Und Country Joe & The Fish spielten dazu.

Als links galten auch alle Teilnehmer des Vietnam Day Committee, das mit einem zweitägigen Happening versuchte, in Oakland einen Zug mit Soldaten für Vietnam aufzuhalten. Wie suspekt ein solches Komitee für den Normalbürger wirken mußte, wird erst recht aus dem Blickwinkel klar, daß der Krieg in Vietnam, seit 1961 mit aktiver US-Beteiligung, damals als heiliger Kampf gegen den Kommunismus galt. Kurz, als links und damit gefährlich galt wie noch heute – jeder, der sich für Verbesserungen, Reformen, Beseitigung von Unrecht oder größere Humanisierung einsetzte.

Doch ähnlich beunruhigend wie die politische Linke wirkten noch andere Gruppen auf die pig nation, wie der Journalist Abbie Hoffman das bürgerliche Amerika im Gegensatz zur Woodstock-Nation nannte. Als bedeutender Katalysator der Gegenkultur wirkten die Yippies, „die nicht pur, wie die Linken und nicht angetörnt wie die Hippies, sondern beides in einem sein wollten“ (Ingeborg Schober).

Jerry Rubin hat in seinem Buch „Do It“ von 1970 die Entstehung des Wortes Yippie so erklärt: Y für youth. I für international revolution, P für party, also Partei – die Anhänger demnach: YIP-pies. Und Rubin weiter: „Das Geheimnis des Yippie-Mythos ist, daß er Unsinn ist… Um ein Yippie zu sein, braucht man keine ideologischen Voraussetzungen zu erfüllen. Schreib deinen eigenen Slogan… Jeder ist sein eigener Yippie.“ Solch anarchistische Impulse traten – mehr oder weniger stark ausgeprägt – eigentlich in jeder spätsechziger linken Bewegung der westlichen Industrienationen auf; nicht zuletzt die Bestrebungen zur Antiautorität wurden davon geprägt. Nur: mit Anarchismus meinte man damals noch die aus dem Griechischen abgeleitete Bedeutung „Herrschaftslosigkeit“ nicht mehr! Also nicht die heutige Verhunzung von „Anarchie“ als Synonym für Chaos, Terror und Nihilismus.

Der Anarchismus der Yippies besaß gar noch den Vorteil, ein von Fröhlichkeit geprägter zu sein: „Die Yippies sind Marxisten. Wir stehen in der revolutionären Tradition von Graucho, Chico, Harpo und Karl… Karl schrieb und sang sein eigenes Rockalbum mit dem Titel ,Das kommunistische Manifest‘ “ (Jerry Rubin).

„Everywhere I hear the sound

Of marching charging feet boy

‚Cause summer’s here

And the time is right

For fighting in the street boy… „

(Rolling Stones in „Street Fighting Man“)

Während in Europa 1967 erstmals von Studentenunruhen in breiterer Öffentlichkeit die Rede war. hatte sich die Protestbewegung in den USA sehr viel schneller und nachdrücklicher ausgebreitet, was hauptsächlich daran lag. daß die amerikanische Bewegung nicht nur auf Studenten aufbaute, sondern auf vielfältig orientierte movements. Gewiß kamen die Anstöße zur counter culture, zur Gegenkultur, oft aus Kalifornien, aber die Hessen sich scheinbar nahtlos mit dem Protest der Folkanhänger aus dem Umfeld des Greenwich Village verbinden.

Die Bürgerrechtsbewegung zur Erlangung gleicher Bürgerrechte für Weiße und Farbige hatte schon 1963 etwa 200.000 Leute zum Marsch nach Washington D.C. auf die Beine gebracht, mit Dr. Martin Luther King in der ersten Reihe. Im Oktober 1967 marschierten ebenfalls 200.000 zum Pentagon, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren. Zu Eldrige Cleaver’s Black Panthers gründete John Sinclair in Detroit die White Panthers als Parallelstück und führte seinen Workshop der „Trans-Love Energies“. Gleich, welchem Hintergrund die verschiedenen Bewegungen und ihre Mitglieder entstammten – der Gegner war klar fixiert: Pig Nation oder noch geläufiger: das Establishment.

Doch jenes Establishment besaß alle Schlüsselpositionen, war besser organisiert und kämpfte mit des Gegners Taktik: Keine Differenzierung der einzelnen Gruppen, sondern Kampf gegen alles, was langhaarig, buntbekleidet, von nicht weißer Hautfarbe, intellektuell und gleich mehreres davon war. Die schon 1966 in San Francisco erfolgreichen Einschüchterungen durch Nationalgardisten auf der Straße fanden ihren unrühmlichen Zenit 1968. Zahlreiche Rockbands waren bis dahin vorübergehend verhaftet worden; für Festivals, etwa eine Neuauflage von Monterey, wurden keine Genehmieuneen erteilt: das anti-riot-Gesetz verlangte beispielsweise die Strafverfolgung, wenn jemand zum Besuch einer Veranstaltung aufforderte, bei der es anschließend zu Gewaltakten kam; beim Konvent der Democrats im August 1968 in Chicago schlug die Polizei wahllos drauf; nicht nur Yippies, auch danebenstehende ‚Normalbürger‘ kriegten jetzt eins ab – und das Fernsehen übertrug nationwide.

Und genau hier liegt der Grund, weshalb schon 1968/69 die später so genannte Woodstock-Nation resignierte und zu einer unpolitischen Rückzugsbewegung verkümmerte. Die Träume von einer großen Alternativ-Gesellschaft waren niedergeknüppelt worden. Außerdem erfolgte im August 1968 ein Doppelschlag: Die UdSSR entledigte sich ihrer Prager Dissidenten durch den Einmarsch in die Tschechoslowakei; die USA schaffte das gleiche im Innern durch etliche Verhaftungen in Chicago, durch die Verurteilung ihrer Dissidenten Abbie Hoffman, Lee Weiner, Tom Hayden oder Jerry Rubin. John Sinclair wurde kurze Zeit später wegen Besitzes von zwei Joints zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Im Sommer 1969 gewann Richard Nixon die Präsidentenwahl knapp vor dem liberaleren Hubert Humphrey. Nixon stammte aus Kalifornien, galt als mindestens konservativ, manchen schien er gar gefährlich. (Daß er’s war, wissen wir heute). Für die amerikanische Jugend besaß dieser Wahlausgang niederschmetternde Erkenntnisse. Viele zogen aufs Land, viele resignierten und wurden vom einst bekämpften Establishment aufgesogen. Kurz vorher allerdings feierte man noch ein riesiges Happening, ohne Politik, bloß mit Spaß und Musik: Woodstock.

„… out you paid for your riches and fame

Wasn ‚t it all a stränge gante

You ‚re a little insane

Money that came and the public acclaim

Don ‚t forget what your are:

You ‚re a Rock’n ‚Roll star“

(The Byrds in „So You Want To Be A Rock’n’Roll Star“)

Woodstock besaß nicht nur keine politische Relevanz, sondern steht bei genauerem Hinsehen auch als Musikfestival keineswegs so einmalig da. Nachher hat es weit besser organisierte Festivals, einmal sogar mit mehr Zuschauern gegeben: etwa im Juli 1973 in Watkins Glen/New York, wo 600.000 zugegen waren. Vor Woodstock war 1968 bereits das erste Isle Of Wight-Festival in England gelaufen. Und vor Woodstock lag auch Monterey.

Musikalisch, mehr aber noch kommerziell war dieses Festival im amerikanischen Monterey der Angelpunkt, hinter dem Woodstock lediglich wie eine – wenngleich sehr viel gigantischere – Revue voller Nachwehen erscheint. Monterey liegt ziemlich genau zwischen San Francisco und Los Angeles, nennt sich selbst die Welthauptstadt des Artischoken-Anbaus und erlebte vom 16. bis 18. Juni 1967 im dortigen County Fairground das erste Rockfestival überhaupt.

Produzent Lou Adler und John Phillips von den Mamas & Papas hießen die Veranstalter, die 60.000 Zuschauer auf den Fairground holten, 430.000 Dollar Profit erwirtschafteten und von DA. Pennebaker einen Film darüber drehen ließen. Die Liste der Bands war gewaltig: Otis Redding, Mamas & Papas, The Who, Jimi Hendrix, Paul Butterfield Blues Band. Janis Joplin, Hugh Masekela, Moby Grape, Blood Sweat & Tears, Johnny Rivers, Country Joe & The Fish, Ravi Shankar, Laura Nyro, Steve Miller, Electric Flag, Quicksilver Messenger Service, Byrds und Jefferson Airplane. In euphorischer Stimmung, wie auch in Woodstock, zeigte sich Eric Burdon, der von „10.000 electric guitars“ sang. Und für die Nachwelt wurden einzelne Auftritte auch auf Platte konserviert.

Für CBS-Manager Clive Davis, heute Chef von Arista, markierte Monterey den Wendepunkt der Firmenpolitik: Er nahm prompt Rockbands unter Vertrag (B, S & T, Janis Joplin als die erfolgreichsten) und hob damit seine CBS binnen kurzem zum umsatzstärksten Plattenkonzern der USA hoch. Überhaupt schlugen sich die Plattenfirmen um die Monterey-Bands, die entweder schlechte oder noch gar keine Verträge besäßen. Als dann in Woodstock zum Beispiel Santana als relativ neue Band auftrat, da war sie schon längst bei der CBS. Nur noch zwei Acts dieses Festivals galten als Nicht-Profis ohne Vertrag. Der Rest war längst seit Monterey (oder noch früher) dick im Business oder hatte sich spätestens seit dem Newport Pop Festival im August1968 freigespielt. Denn auch hier schmückten viele illustre Namen die Plakate.

Für das Geschäft mit dem Rock war in Woodstock grundsätzlich nichts mehr aufzubauen, nur noch auszubauen. Die sekundäre Industrie des Rock, also Hersteller von Getränken. Räucherstäbchen. Fuck-You-Hemden, Lederwesten, Schmuck et cetera, war in Woodstock voll bestückt anwesend. Sie hatte sich demnach schon vorher aufgebaut. Gleiches gilt für die Verkäuflichkeit der Musik: Investitionen hatte die Plattenindustrie genügend gemacht, mit steigenden Summen -1966 für Jefferson Airplane 20.000 Dollar Garantie von RCA; 1967 für Steve Miller 50.000 Dollar Vorschuß plus 10.000 Dollar Jahresbonus von Capitol; Schluß endlich 1969 für Johnny Winter ein auf fünf Jahre verteilte Vorschuß von 300.000 Dollar von CBS. Manche Leute beklagten nach Woodstock, hier seien Geschäfte gemacht worden. Das ist Quatsch: Rock war zu diesem Zeitpunkt schon längst Geschäft.

In Woodstock konnte man allerdings den Marktwert steigern. Die Who. Joe Cocker. Ten Years After und Ravi Shankar als Nicht-Amerikaner schafften hier den endgültigen Durchbruch auf dem US-Markt. Bands wie Johnny Winter. Santana, Sha Na Na, Crosby Stills Nash & Young, Blood Sweat & Tears, Sly & The Family Stone. Melanie und Canned Heat übersprangen, unabhängig davon, wie lange sie schon bestanden, in Woodstock drei Sprossen auf der Erfolgsleiter mit nur einem Konzert. Andere, wie Mountain, Richie Havens oder John Sebastian, erreichten kurzfristige Berühmtheit. Noch weitere festigten ihren Status: Janis Joplin, Jefferson Airplane, Tim Hardin, Juni Hendrix, Paul Butterfield, The Band, Country Joe und Joan Baez, für deren „We Shall Overcome“ Woodstock wie geboren schien. Und dann waren da noch, um alle Künstler zu nennen, Bert Sommer. Sweetwater, Incredible String Band und Keef Hartley – die es nicht schafften. Und Creedence Clearwater Revival sowie Arlo Guthrie. die es nicht in Woodstock, sondern über die Hitparaden oder über den Film „Alice’s Restaurant“ schafften.

Als wesentlich für den Apres-Woodstock-Marktwert der Bands erwies sich der von Michael Wadleigh beaufsichtigte Festival-Film, der die rosigen Seiten des Treffens in dreieinhalb Stunden und aul drei synchron nebeneinanderlaufenden Filmstreifen festhielt. Vielleicht noch wichtiger waren die beiden Woodstock-Alben mit insgesamt fünf Platten. Doch vertragliche Rangeleien liehen sowohl Film wie auch Alben zu zwar recht gelungenen, aber peinlich einseitigen Angelegenheiten werden. Ein Beispiel: während Crosby Stills Nash & Young sechs Songs auf die Platten brachten, war von Santana. Who und Joe Cocker zusammengenommen bloß halb so viel zu hören. Janis Joplin, CCR, BS & T. The Band und Johnny Winter tauchten weder auf den Platten noch im Film auf.

Herausragende Musikereignisse wurden in Woodstock auch kaum gefunden, von Hendrix“ „Star Spanled Banner“, dem Sly Stone-Set und Cocker’s „With A Little Help From My Friends“ einmal abgesehen. Der Rest reproduzierte vorwiegend Bekanntes oder später besser Aufgenommenes. Und CSN & Y sangen in „Suit: Judy Blue Eyes“ erbärmlich falsch.

„Hey Punk, where you goin ‚ With that button on your shirt?

Well, Im goin ‚ to a love-in

To sit & play my bongos in the dirt!

Hey Punk, where you goin‘

With that hair on your head‘

I ‚m goin‘ to the dance to get some aktion

Then I’m goin‘ home to bed!“

(Zuppa/Mothers in „Flower Punk“/“Blumenheini“).

Schon 1968 hat sich Frank Zappa im angeführten Song über die Naivität der Festivalbesucher belustigt, die sich um Dreck und Druck genauso wenig scherten wie um die Tatsache, daß nur die Be-Ins der Frühzeit Spontancharakter. Herzlichkeit und Humanität beinhalteten. Und je mehr Rock zu einer großen Bewegung geriet, desto gewaltiger wurden auch die Arenen und Plätze, auf denen die Rockbands nun auftraten. Konnte man früher noch aus der letzten Reihe die Band auf der Bühne bitten, irgendein Statement zu erklären, so durfte man in Woodstock – bei angeblich exzellentem Sound zwar über ein Drum-Solo diskutieren, doch wie der Schlagzeuger aussah, das konnte man aus einem Kilometer Entfernung natürlich nicht beurteilen. Die Gigantonomie dieses Festivals, stets als herzergreifend positiv dargestellt, war sein wesentlicher Fehler. Doch genau darauf baut wesentlich der Woodstock-Mythos auf.

Das etwa 160 km von New York entfernt liegende Städtchen Woodstock war damals eine Art Künstlerkolonie. Und ist es noch heute, wie mir mein Freund Rolf vor drei Wochen erzählt hat – er war kürzlich in Woodstock. Angeblich leben dort auch jetzt noch einige Vertriebene, die vor zehn Jahren den Heimweg nicht mehr gefunden haben. Vom 15. bis 17. August 1969 sollte nach Planung der Veranstalter John Roberts(24), Mike Lang (24), Arthur Kornfeld (26) und Joel Rosenman (26) in Woodstock eine „Music and Art Fair“, also eine Musik- und Kunst-Messe stattfinden. Da die behördliche Erlaubnis für dieses Ereignis nicht erteilt wurde, suchte man nach einer Alternative und fand sie mit der Farm des Milchbauern Max Yasgur in Bethel/N.Y. rund 100 km nördlich von Woodstock. Die durch die nun falschen Woodstock-Plakate fehlgeleitete Besucherschar hoffte man in den Griff zu bekommen, zumal eine Schätzung. 200.000 könnten kommen, als exotisch abgetan wurde. Die Veranstalter rechneten ernsthaft mit erheblich weniger Leuten. Bis auf diese eklatante Fehlschätzung schien die Musik- und Kunst-Messe, bei der dann die Kunst untertauchte, aber gut vorbereitet zu sein. Die Veranstalter hatten sogar 346 Polizisten angeheuert, die in ihrer Freizeit beim Festival arbeiten sollten und einen Eignungstest bestehen mußten. (Frage: „So ein Typ kommt auf Sie zu und bläst ihnen Marihuanaraüch ins Gesicht! Was machen Sie?“ Falsche Antwort: „Verhaften“, richtige Antwort: „Tief durchatmen und lächeln“). Einen Tag vor dem Festival jedoch erinnerte der entsprechende Polizeichef seine Kollegen daran, Schwarzarbeit sei verboten. Keiner der angeheuerten Männer erschien daraufhin in Bethel.

Das Chaos schien ohnehin unaufhaltsam. Die Vorhut der Besucher erschien schon eine Woche vor Festivaltermin; am Wochenende des Festivals waren knapp eine Million Fans unterwegs! Das Verkehrschaos allein reichte, um die Anfahrt, wenn nicht ganz unmöglich, so doch zu einer unsäglichen Tortur zu machen. Nach Ende des Festivals wiederum brauchte man mehrere Tage zur Abfahrt. Rund eine halbe Million Fans erreichte nie das Festivalgelände, reiste zurück oder ließ irgendwo in der Umgebung eine eigene Mini-Party laufen. Die übrigen 450.000 Besucher schafften es tatsächlich, sardinenbüchseninhaltsartig Platz im kesseiförmigen, natürlichen Amphitheater der Yasgur-Farm zu finden.

„We are stardust,

We are golden stardust,

We are big, you know we are golden

And we ‚ve got to get ourselves

Back to thegarden“

(Joni Mitchell in „Woodstock“)

Nun ja, euphorisiert waren alle angesichts dieser Massen, die die politisch so arg geschockte Bewegung der Jugend plötzlich wieder in hoffnungsvollerem Licht erstrahlen Hessen. Die Fans, die Veranstalter, die Medien und nicht zuletzt die Musiker schienen berauscht. Doch daneben gab es Schlamm. Abfall und überfließende Toiletten. Angesichts der Verzweiflung über die katastrophalen hygienischen und menschlichen Zustände, über die Not an Nahrungsmitteln, ärztlicher und pyschologischer Betreuung trat Freitagabend indes ein Umschwung ein. Die Veranstalter erklärten nach dem Verkauf von 186.000 Eintrittskarten, von nun an sei Woodstock ein Free Concert, und flugs erkannten alle, daß sie in einem zwar schmutzbesudelten Boot saßen, das sie unter Normalumständen nie benutzen würden aber es war ein gemeinsames Boot. Hier in Woodstock/Bethel wurde unter dem Zeichen von Love & Peace eine politisch höchst fragwürdige, ja gefährliche „Wir sind alle Brüder“-Gesinnung festgeschrieben.

Gewiß war es hübsch, wie die Fans die von den Hubschraubern der Pig Nation eingeflogene Nahrung teilten, wie sie den Gestank der Klos aushielten, im Freien bumsten.

angeblich sehr reines Opium. Meskalin und Hasch konsumierten. War es wirklich hübsch? „Ekelerregend“, so ein Student aus Pennsylvania. „Ich bin patschnaß, ich habe die Nase voll, ich bin todmüde – und ich find’s herrlich“, so ein 22jähriger aus Montreal.

Auf der Bühne wurde die Geburt von zwei Kindern verkündet. Nichts gesagt wurde über 400 Drogentrips mit Horroreffekt, über einen Toten durch Blinddarmdurchbruch aufgrund zwangsläufig unzureichender ärztlicher Hilfe, über einen Toten durch Drogenüberdosis und über Raymond Mizak. der im Schlafsack von einem Traktor überrollt wurde. Im Film und auf den Plattenhüllen dagegen wurde das Paradies zelebriert: Blonde Babies kletterten über ein Schlagzeug; Er und Sie, in eine Decke gehüllt oder paradiesisch nacktbadend; die Menge, nach drei schweren Regengewittern im Schlamm wühlend. Es gab neben der Love & Peace-Gesinnung wohl noch zwei Gründe, die die Leute in Woodstock/Bethel aushalten ließ. Erstens war es das erste Mal, was immer von Bedeutung ist. und zweitens war es Hochsommer. Da war Schlamm einigermaßen ertragEin Sprung über 14 Monate hinweg: auf der Ostsee-Insel Fehmarn war es Herbst, als dort 1970 unter ausdrücklicher Berufung auf Woodstock Love & Peace auch in unseren Breiten Einzug halten sollten. Auch hier Schlamm. Abfall und Krankheiten, aber zusätzlich noch Kälte, schlechter Sound und viele Bands, die nicht auftraten. Inzwischen hatten die Veranstalter bereits gelernt, wie man jeden Besucher dazu zwingen konnte, Eintritt zu bezahlen (wogegen zunächst nichts einzuwenden ist). Lederbekleidete Schwergewichtler observierten nun die Eingänge, meterhoher Stacheldraht schirmte Unbefugte ab aus der irrealen Woodstoekldee war die Realität des Konzentrationslagers geworden, in dem man für bestimmtes Geld bestimmte Zeit lang frei sein durfte.

Die Zahl der guten Festivals nach Woodstock war zumindest in Europa sehr gering. Meistens ging gleich mehreres schief: Wetterbedingungen, Eintrittspreise, Unterschied zwischen angesagten und tatsächlich auftretenden Bands. Kluge Leute bemerkten schon 1970 keinen Unterschied zwischen Rockfestivals und Heino-Konzerten, außer, daß Heino-Fans für ihr Geld nicht im Dreck, sondern in bequemen Sesseln saßen.

Die Love & Peace-Ideologie, ursprünglich eine lebensbejahende, durchaus aktiv und nicht passiv ausgerichtete Idee, war umfunktioniert worden. Apathie, sich-alles-gefallen-lassen und unreflektierte Begeisterung wurden geradezu schick. Wenn das Publikum nach drei ausgefallenen Bands aufzumucken drohte, erschien einfach ein Langhaariger (wegen des äußerlichen Zugehörigkeilsmerkmals!) auf der Bühne, hob die Hand und brüllte“.Love & Peace“. Wenn er das geschickt machte, konnte er anschließend den Fans den Ausfall auch der vierten Band mitteilen, ohne daß Aufruhr befürchtet werden mußte. Es dauerte hierzulande sieben Jahre, bis sich die Fans in Scheeßel nicht mehr alles gefallen ließen und in einer schrecklichen, aber verständlichen Aktion Bühne und Geräte in Asche legten.

Wie so oft. halte die Platienindustrie schneller als das Publikum den Durchblick. Schon 1970 verschickte die CBS ein Paket progressiver Musik mit dem beigelegten Handzettel: „Woodstock war das Über-Bayreuth. Altamont das Stalingrad der amerikanischen Progressive-Music“. Die zynische Offenheit dieses Satzes hätte zu denken geben müssen, wiewohl hier neben dem Woodstock-Mythos gleich ein zweiter verbraten wurde: der unseelige Mythos, Altamont im Dezember 1969 habe die Bewegung erwürgt. Als wenn – Entschuldigung – der Tod des Meredith Hunter durch das Messer eines Hell’s Angels irgendwelche Träume beendet hätte. In Watkins Glen starben an einem Tag zehn Menschen – und das Festival wurde allgemein als erfolgreich angesehen.

Das schlimmste Überbleibsel von Woodstock scheint mir dieses „Wir sind alle Brüder“-Gefühl, das zur rechten Zeit immer wieder auftaucht: 1977 genügte in der Düsseldorfer Philips-Halle ein Song, um fast alle Fans aufspringen zu lassen, das Love & Peace-Zeichen zu formen und die Außenwell zu vergessen – Joan Baez sang „We Shall Overcome“. Legt man (und das muß man) politische Dimensionen an, kann einem grauen. Unseren Vorfahren genügte zunächst auch bloß ein (brauner) Song…