Popkolumne, Folge 177

Bingewatching als Strafe: 11 Gründe, warum die 4. Staffel „Stranger Things“ nervt


Endlich wieder Eintauchen in die düsteren Eighties der Marke „Stranger Things“. Die vierte Staffel verheißt noch fiesere Dämonen, einen noch groteskeren Plot und noch mehr Zuwachs im ohnehin schon knallvollen Freak-Ensemble. Linus Volkmann begibt sich in die Schattenwelt und sieht die mutwillige Vernichtung eines einst innovativen Franchises. Das Ende ist nah! (Und alle Spoiler vorab markiert.)

Bitte nehmt ein bisschen Rücksicht, Leute! Dem Netflix geht es nicht so gut

Im ersten Quartal 2022 sind dem Streaming-Primus 200.000 Abonnent*innen verloren gegangen, man ist eben längst nicht mehr alternativlos am Markt, sondern von immer potenterer Konkurrenz umzingelt. Wer kann den Netflix-Aderlass stoppen? Na, am besten eine starke Eigenproduktion. „Make Netflix great again“, wünscht man sich daher von seiner längst auserzählten 80s-Supernova „Stranger Things“ – und präsentiert uns nun eine überdehnte neue Staffel, die zwar kurzfristig für Hype, Buzz und Aufmerksamkeit sorgt, das Streaming-Portal aber nicht retten wird, sondern lediglich das Phänomen „Stranger Things“ noch weiter aufzehrt. Schade um Eleven und ihre Leute.

Product Placement in „Stranger Things“: Was darf Netflix, was nicht?

11 Gründe, warum die 4. Staffel von „Stranger Things“ nervt

01 „Stranger Things? Ich glaube, ich schlüpfe mal in was Bequemeres…“ [leckt sich die Lippen]

Man müsste Popkultur schon sehr hassen, wollte man sich ernsthaft auf den verlorenen Posten zurückziehen, dass „Stranger Things“ grundsätzlich keinen Spaß mache. Allein sein düsterer Zuweg zum davor ewig gleichen 80er-Jahre-Revival war ein großes Verdienst des Franchise. Oder natürlich auch die Soundästhetik rund um die Neo-Electro-Band Survive. Aber mit derart feuilletonistischen Argumenten schafft man eigentlich nur Distanz, statt einfach zu sagen, wie sehr man diesen zauberhaften Cast rund um Eleven und die vier Nerds aus dem Keller schätzt.

Die Sorge um die Figuren ist ein großer Teil des emotionalen Invests in die Serie als Zuschauer*in. Denen soll bei aller Dämonendämmerung bitte nichts passieren! Bei der Ankündigung einer vierten Staffel blieb diese Sorge erhalten, allerdings wandelt sich die Richtung. Man fürchtet nicht mehr so sehr, dass der Demogorgon ihnen die Köpfe abbeißt wie Schnitzel, sondern viel eher, dass die kapitalistische Verwertungslogik ein wunderbares Franchise so sehr zerpflückt, dass Stück für Stück all die eigenen positiven Verknüpfungen zur Serie gekappt werden.

Na, dann, herzlich willkommen zur vierten Staffel „Stranger Things“.

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02 Police Academy 7

Nicht falsch verstehen, ich will hier keinen Purismus beschwören, der nur dem allerersten Statement Gültigkeit zuspricht. Nicht jedes Sequel ist ja gleich „Police Academy 7“. Doch es gibt allzu viele Stoffe, deren Erfolg Fortsetzungen wirtschaftlich ratsam erschienen ließ und die dann aber dazu führ(t)en, dass man als Fan irgendwann kein Bock mehr auf seinen einstigen Fetisch hat.

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03 The Fear of (lies: The Fuck off) the Walking Dead

Man mochte von „Game Of Thrones“ halten, was man wollte, aber die Geschichte hat ihre vielen Staffeln letztlich getragen. Das kann man beispielsweise von der bizarren Echokammer von „Walking Dead“ dagegen nicht behaupten. Hier scheint das Franchise selbst bereits der Zombie, der einfach nicht von uns lassen kann und noch so lange stupide im Wald rumrennt, bis es nun in Season 11 endlich (mit nur noch einem Zehntel einstiger Einschaltquoten) final enthauptet wird. Halleluja. Aber soll es so denn auch „Stranger Things“ ergehen?

04 Die Prämisse

Was sind wir für steinige Wege mit den Hauptfiguren rund um Eleven, Mike, Will, Dustin und Lucas gegangen: Das Mädchen aus der Geschlossenen und die spillerigen Nerds – und wie sie sich nicht nur Dämonenkrallen entwinden, sondern vor allem auch dem High-School-Mobbing. Denn das Ganze ist vor allem eine Außenseitergeschichte, die Monster sind eigentlich bloß Kulisse. Wie schön war es daher, als die einst auf dem Pausenhof geächteten Figuren in der vorherigen Staffel endlich zu Held*innen wurden – und wie frustrierend ist es aber, sie nun mit der neuen Staffel erneut als totale Loser präsentiert zu bekommen? Eleven wird gemobbt, die Boys sind wieder die Trottel der Schule, all das, was man in den vorausgegangenen Staffeln auch am Bildschirm miterkämpft hat, ist Makulatur. Alles vergessen, alles entwertet. Keine Entwicklung möglich. Schönen Dank. Der Beginn der vierten Staffel hat Sitcom-Niveau, wo auch nach jeder Folge (oder in diesem Fall eben Season) bei der nächsten alles wieder wie am Anfang ist. Schon der Start in die neue Geschichte verlangt also eine große Frusttoleranz.

Liebe Duffer Brothers, wir müssen dringend über „Stranger Things 3“ reden

05 Manchmal kommen sie wieder [Spoiler!]

Das Finale der dritten Staffel konfrontierte uns mit dem Tod der zentralen erwachsenen Hauptfigur: Chief Hopper opfert sich für die Gemeinschaft und wird vaporisiert. Man kennt es von sich selbst aus dem eigenen Alltag.

Das Skript der neuen Season reanimiert ihn nun völlig selbstverständlich, fortan kämpft er in einer Art Demogorgon-Streichelzoo, den das russische Militär angelegt hat. Fast in jeder Szene droht dem gemütlich bis abgewichsten Hopper dort der Tod. So soll die Binnen-Spannung zwischen Sequenzen gehalten werden, aber wie soll man das ernsthaft noch mitgehen? Den Typ haben wir doch schon unter Tränen beerdigt, nur labelt die neue Story das alles quasi als Hoax – warum also wieder für ihn bangen? Es scheint hier doch letztlich alles folgenlos.

06 Mit 29 Jahren in der High School

Ein großer Nerv-Faktor ist auch das mittlerweile völlig überdehnte Ensemble der Serie. Ich meine, wie viele Charaktere kann man emotional betreuen an einem Fernsehabend? „Stranger Things“ kreiste da schon in Season 3 weit im roten Bereich. Die neue Staffel nun dient uns einfach noch eine Handvoll übertrieben sympathischer Knallköpfe an. Einhaken möchte ich bei dem markantesten: Joseph Quinn als Eddie Munson, einer der Mitschüler unserer Rollenspiel-Nerds. Kein Platz für Ageism an dieser Stelle … aber wo ein 29-jähriger Schauspieler einen High-School-Schüler spielt, da wird beim Casting doch gekifft!

07 Diese Haare

Und wenn wir schon dabei sind: Auch seine „Wayne’s World“-Gedächtnis-Perücke macht die Figur jenes Eddie Munson nicht glaubhafter – im Gegenteil.

08 Der Plot

Bei allen Nebelkerzen, neuen Leuten, neuen Monstern, neuen Nebenschauplätzen bleibt der Plot eine völlige Blaupause der bisherigen. Ein Fakt, der schon bei Staffel 3 fragen ließ, welche Motivation man eigentlich haben sollte, sich immer wieder dieselbe Geschichte erzählen zu lassen? Typischer Fall von Popkultur-Demenz.

09 Die Drastik

Wo der Tod einer Figur ja offensichtlich nicht viel Bestand hat, muss man irgendwie anders schocken. Das dachten sich dann wohl auch die Duffer Brothers, also die Macher von „Stranger Things“, und geben ihrem Franchise ein verstörendes Maß an Gewalt oben drauf. Und wo ein grausamer Hackebeilmord nicht mehr reicht, bleibt als nächstes Effekt-Mittel… genau, die Folter. Psycho-Folter gegen Eleven, langsame körperliche Vernichtung von Gefangenen – wenn eine*n also die maue Story schon nicht nach Abschalten verfolgt, sollen es wenigstens die drastischen Bilder sein. Auch eine Möglichkeit, Eindruck zu schinden. Bloß was für einen…

10 Die neue Finsternis

Was vor zehn Jahren entsättigte Farben waren, die einen Film oder eine Serie „cooler“ erscheinen lassen sollten, ist es heute das Wegschicken des Beleuchters am Set. Abenteuer Augenlicht? Nicht mit Filmen wie „The Batman“ oder der neuen „Stranger Things“-Staffel – wie sehr kann man das Prädikat „Film Noir“ eigentlich noch wörtlich nehmen? Das bedeutet aber etwas mehr als bloß Restlichtabschwächung.

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11 Save the worst for last

Unter uns, als „Stranger Things“-Fan ist man natürlich bereit, einer neuen Staffel vieles zu verzeihen. Dass tote Figuren einfach wieder leben? Ist doch irgendwie auch schön! Dass man vor Dunkelheit mitunter minutenlang kaum was sieht? Hey, die Schemen der Figuren, die man durch die Schattenwelt eimernd erahnt, regen ja irgendwie auch die Phantasie an! Nein, bei aller reflexhaften Sequel-Mäkelei gibt es vor allem eine Sache, die hier wirklich unverzeihlich ist: die Folgenlänge.

Ja, wir haben kapiert, wie episch sich der Plot gebiert und ja, es müssen zwei Dutzend Figuren in Grüppchen bewegt werden, aber das rechtfertigt in keinem Fall, dass die einzelnen Episoden jetzt nicht mehr 43 Minuten Länge haben (wie in Season 1) sondern über 70. Und nur weil eine Story umständlich ist, ist sie nicht komplex. Das, was diese zelebrierte Überlänge erzeugt, ist so einfach nur ein Umleitungsexzess. Jede Szene ein Build-Up ins Nichts, jeder Umschnitt behauptet einen Cliffhanger, der bei näherer Betrachtung gar keiner ist. Die 4. Staffel „Stranger Things“ ist ein einziger Wartesaal. Warten auf den großen Endkampf, Warten auf den nächsten manipulativen Soundtrack-Moment (bei Kate Bushs „Running Up That Hill“ mag das auf dem Papier mal wieder geklappt haben), Warten auf the next Piff Paff, den nächsten Zwischenhöhepunkt.

Unter’m Strich wartet man aber vor allem darauf, was zuerst kommt: Die Ankündigung noch weiterer Staffeln und Spin-Offs – oder das Gefühl, dass einem die einst besondere Serie langsam egal geworden ist.

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Off Topic [Eine Plattenkritik]

Daniel Benyamin
ERAL FUN
(Ghost Palace / Cargo)

Dass sich eins der emsigsten und kreativsten Pop-Pärchen trennte, brach mir damals ein wenig das Herz. Sea + Air waren nicht mehr. Love zerrieben auf tausend Kilometern gemeinsamer Tour. Der männliche Part des Duo, also Daniel Benyamin, hat nun zu seinem Solo-Outfit zurückgefunden: theatralische Pop-Eleganz, inszeniert als ein steter Walk zwischen Verkünstelung, Kopfstimme und Drama. Mein Lieblingsstück ist eindeutig „Why Do You Look So Sad When You Smile“, klingt, als hätten die Sparks eine Powerballade für Van Halen geschrieben.

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Zombies, knutschende Cowboys, Eminem & Brit: So sahen die Nuller-Jahre (im Kino) aus

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