Kritik

„Caïd (Gangsta)“ auf Netflix: Ein Drogendealer und ein Regisseur geben alles für die Realness

Nach „Lupin“ folgt der nächste französische Netflix-Serien-Streich mit der rasanten Thriller-Miniserie „Caïd“. Im „Blair Witch Project“-Style wird der Puls nach oben gefahren. Statt Horror im Wald führt die Serie in eine Hochhaussiedlung im Süden Frankreichs und folgt den Träumen eines Regisseurs und eines rappenden Drogendealers.

Endlose Gänge, Beton, der in der Sonne erleuchtet und Zäune, die bedrohlich fernhalten, aber auch einsperren. Die Hochhaussiedlung in der neuen französischen Miniserie „Caïd (Gangsta)“ ist für Außenstehende wie dem Musikvideo-Regisseur Franck (Sébastien Houbani) ein kaum verständliches Labyrinth. Für den Drogendealer Tony (Abdraman Diakite) wiederum ist es der Ort, wo jeder seinen Namen kennt. Gemeinsam mit seiner Drogenbande kontrolliert er das Viertel, muss es aber auch ständig verteidigen. Franck und Tony verbindet auf den ersten Blick nichts, vielmehr ist Franck ein Eindringling in ein sonst in sich geschlossenes System. Doch schnell stellt sich heraus, dass beide von einem sozialen Aufstieg träumen. Während Franck es satt hat, One-Hit-Wonder-Musiker zu filmen und sein Können lieber mit großen Filmprojekten verwirklichen will, strebt Tony eine Karriere als Rapper an.

Der erzählerische Reiz der Story liegt darin, dass beide Träume aussichtsreich sind. So hat Tony trotz vorheriger Gefängnisstrafe bereits einen Deal mit einem Plattenlabel in der Tasche. Noch interessanter wird das Ganze, weil der Aufstieg aus einer schwierigen Nachbarschaft zum Rapstar keine Fabel ist, sondern längst Teil der Realität. Ein Beispiel ist etwa das französische Rap-Duo PNL. In ihrem Streben nach mehr finden die Figuren zueinander. So soll Franck für das Plattenlabel ein besonderes Rap-Video drehen, in dem Tonys Alltag als Gangster hervorsticht – ganz im Sinne des medialen Kassenschlagers „Authentizität“.

Dieses „echte“ Erlebnis wollen auch die Serienmacher realisieren. Dafür nutzen die Regisseure Nicolás López und Ange Basterga, die den Stoff bereits 2017 als Low-Budget-Langfilm herausgebracht hatten, für ihre Erzählung die Found-Footage-Methode. Diese ist besonders im Horrorgenre bekannt durch Filme wie „Blair Witch Project (1999) und „Paranormal Activity“ (2007). Die Filmaufnahmen werden dabei so inszeniert, dass sie wie Amateurfilm-Material aussehen. Dazu gehören verwackelte Bilder, harte Schnitte, ungewöhnliche Kameraeinstellungen, aber auch improvisierte Textzeilen.

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Aus der Perspektive eines Kindes

In „Caïd“ wird überaus kreativ mit diesem Stilmittel umgegangen. Wechselnde Figuren übernehmen die Kamera, dadurch verändert sich immer wieder die Perspektive. So wird ein Drogendeal mit einer rivalisierenden Bande auch aus der Sichtweise eines Kindes verfolgt, was die Zerbrechlichkeit der kindlichen Unschuld in einer solchen Umgebung hervorstechen lässt. Außerdem werden durch den Einsatz von GoPro-Kameras die Zuschauer*innen oftmals zu Spion*innen, da die Kameras laufen, ohne dass das wirklich von den Figuren geplant ist. Hier schafft es die Serie allerdings nicht durchweg glaubhaft zu bleiben. Als Tony von der Polizei als Spitzel angeworben wird, durchsucht der Ermittler Tony nicht nach Kameras. Er hat aber zuvor mitbekommen, dass gefilmt wurde. Das erscheint ganz schön tölpelhaft. Richtig gut hingegen funktioniert die Spannungserzeugung durch das Nichtzeigen oder nur Anschneiden von Gesichtern. Das sorgt immer wieder für Orientierungslosigkeit und verstärkt das Gefühl, das Gegenüber nicht lesen zu können und so nicht vorbereitet zu sein.

Die wichtigste Adrenalinquelle der Thriller-Serie ist jedoch die Komponente Zeit. Gerade mal zehn Minuten dauert durchschnittlich eine Folge der zehnteiligen französischen Serie, was erneut den Amateurfilm-Style mit begrenzter Batterie-Power widerspiegelt. Zu Beginn fängt ein roter Punkt im rechten Eck wie bei einer echten Kameraaufnahme zu blinken an und dann läuft die Zeit. Das erweckt Handlungsdruck, dem die Serie auch nachkommt. Sind Franck und sein Kameramann vor dem ersten Treffen mit Tony noch ganz entspannt im Auto, sitzt in der nächsten Minute plötzlich Moussa (Mohamed Boudouh) auf ihrer Rückbank, bedroht sie und nimmt ihnen ihre Personalien ab, was sie zu Gefangenen der Bande rund um Tony macht.

Regisseur Franck (Sébastien Houbani) gerät zwischen die Fronten zweier rivalisierender Drogenbanden.

Die Krux mit der medialen Ausschlachtung

Dieses schnelle Umschalten zieht sich durch die ganze Story. Ein solches Seherlebnis macht süchtig. Die Ruhelosigkeit der Kamera steckt auch in den beiden Hauptfiguren, vor allem in Tony. Sein Lebensstil lässt ihn immer wieder vom Jäger zum Gejagten werden. Diese beiden Extreme sind die Quelle aller Bedrohung und sind gut für den Adrenalinpegel. Figurentechnisch wirkt dies jedoch eindimensional, weil Tony allein in diesen extremen Gefühlswelten operieren kann. Durch die limitierte Erzählzeit ist der Zugang zu den Figuren sowieso begrenzt. Das ist im Fall von Franck, der das Publikum mitnimmt, auf die Reise vom Outsider zum Insider, besonders tragisch. Denn er kennt nur eine Welt aus Bedeutungslosigkeit und Ruhm, was ihn nur allzu durchschaubar macht.

Eine emotionale Anbindung und damit Verständnis für die Charaktere, so wie es etwa im französischen Klassiker „La Haine“ (1995) geschieht, ist in „Caïd“ nicht möglich. Wer sich auf die Form konzentriert, wird allerdings viel mitnehmen. Denn was für die einen ein Leben am sozialen Abgrund ist, wird für die anderen eine Quelle für Entertainment, und das um jeden Preis. Doch wer trägt die Verantwortung?

„Caïd (Gangsta)“ ist seit dem 10. März 2021 auf Netflix im Stream verfügbar.

MIKA COTELLON / Netflix MIKA COTELLON / Netflix