Im Süden viel Neues


Den heißen Scheiß hört man immer zuerst in Austin, Texas. Dort findet jedes Frühjahr das Klassentreffen der Indie-Welt statt. Live von der Front des SXSW berichtet Eric Pfeil.

Your I.D. please“. Der Türsteher des Red Seven Patio, dem herrlich ranzigen Club, der heute den Sub-Pop-Abend ausrichtet, ist zwar jung, aber das gleicht er durch Unnachgiebigkeit bestens aus.

„Wieso I.D.? Wir haben doch unsere Messepässe.“

„Um zu sehen, ob ihr volljährig seid. Ohne Ausweis kein Eintritt. Basta.“

„Das war aber noch nirgendwo ein Problem.“

„Pässe oder kein Eintritt.“

Die Pässe sind im Hotel, keine Chance. Aber wir müssen J Mascis sehen, der gleich spielt. Also versuchen wir’s noch mal mit Freundlichkeit.

„Hör mal, das ist doch albern. Ich könnte dein Vater sein, schau hier: der schlohweiße Bart, der mir fast bis zu den Schuhen hängt. Und dann die Falten, ich bin wirklich sehr, sehr alt.“

„Keine Chance.“

Ich werde ungehaltener. „Jetzt pass mal auf … wirklich keine Chance?“

„Doch. Ihr bekommt zwei schwarze Kreuze auf die Hand und dürft keinen Alkohol trinken.“

Wir schauen uns an. Es ist absolut lächerlich, aber gleich spielt J Mascis.

„Ok, nur zu.“

Und so betreten wir pünktlich zum Auftritt von J Mascis das Red Seven Patio mit zwei Straight-Edge-Kreuzen auf den Handrücken. Wir gehen an die Theke, bestellen Bier. God bless America!

J Mascis ist grandios. Nur mit einer Akustikgitarre sitzt er auf der Bühne, aber wenn er auf sein Verzerrer-Pedal tritt, kreischt es wie bei keinem anderen: Der Mann gewinnt definitiv den Preis für den irrsten Gitarrensound des gesamten SXSW-Festivals. Vor uns lehnt ein rotzbesoffenes Mädchen an ihrem Freund. Was muss bloß jedes Mal in ihrem Kopf passieren, wenn Mascis vorne auf sein Pedal tritt und akustische Actionpaintings aus brüllendem Feedback zu malen beginnt? Wenn die sich gleich übergeben muss, wird das hier für alle Umstehenden sehr böse enden. Doch als Mascis nach einer halben Stunde unter lautem Jubel zusammenpackt und davonschlurft, steht sie immer noch da – schielend, aber aufrecht. Glück gehabt.

Es ist eine Frage der Perspektive, ob man J Mascis für einen erzcoolen Hund, einen Autisten oder eine Mischung aus beidem hält. Der als Post-Hardcore-Gott und Grunge-Vorreiter gehandelte Dinosaur-Jr.-Frontmann verströmt mit seinen langen weißen Haaren, den gut durchgeschlufften Slacker-Klamotten und der übergroßen Tante-Agatha-Brille einen seltsamen Charme. Und seltsam ist auch das, was er erzählt. Gestern sei er hier in Austin Duran-Duran-Sänger Simon Le Bon über den Weg gelaufen, der habe seine Hand gepackt und sich mit den Worten „Hi, I’m Simon Le Bon“ bei Mascis vorgestellt. Und Mascis? „Well, I didn’t know what to say to him, so I just went away.“ Ein Original!

Dabei sind es doch nicht zuletzt die Begegnungen unter Musikern, die das SXSW-Festival, das in diesem Jahr sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen feiert, auszeichnen. Kaum ein Auftritt, bei dem nicht irgendein – angekündigter oder unangekündigter – Gast die Bühne entert. Im Nuvola, einer typischen Ami-Kneipe, bekommt Edwyn Collins an diesem Abend auf der Bühne Besuch von Ex-Drums-Gitarrist Adam Kessler, der bei „In Your Eyes“ seine Ein-Ton-Gitarre erklingen lässt. Ebenfalls auf der Bühne: Edwyn Collins‘ vielleicht achtzehnjähriger Sohn William, der den Part von Drums-Sänger Jonathan Pierce übernimmt und dabei aussieht, als habe man alles, was man über britische Jugendliche zu wissen glaubt, in einer Person zusammengefasst. Collins selbst sitzt das ganze Konzert über auf einem Verstärker: Nach zwei schweren Gehirnschlägen vor sechs Jahren musste der genialische Schrammelsoul-Veteran erst mühsam wieder lernen zu sprechen und zu gehen. Auf die Bühne wird er, am Stock gehend, von seiner Ehefrau Grace geführt. Natürlich ist man gerührt und ein bisschen beschämt ob der Tapferkeit dieses Mannes – aber sein funkensprühender Auftritt hier lässt im Grunde keinerlei Sentimentalität zu. Kurz vor Schluss steht er dann vorsichtig auf und spielt, auf seinen Gehstock gestützt, seinen Welthit „A Girl Like You“, am Ende drückt William seinem Papa einen Kuss auf die Wange, und Grace Maxwell führt ihren Mann von der Bühne.

Der Klebefilm auf der 6th Street kündet von den Ausschreitungen des gestrigen Abends: Austins Amüsiermeile, auf der sich Shot Bars und Musikclubs abwechseln, ist so überfüllt, dass kaum ein Weiterkommen möglich ist. Bis zu sechzehn Bands spielen pro Abend in manchen Läden, rund zweitausend sollen es insgesamt sein. An diesem Donnerstag ist zudem St. Patrick’s Day, was zur Folge hat, dass sich unter die Musikversessenen unzählige Amis in grünen T-Shirts mit Sprüchen wie „Kiss me, I’m Irish“ mischen – ein Wunsch, dem etliche Besoffene oder anderweitig Bedrogte hier gerne nachkommen. Ein paar Ecken weiter stehen im Getümmel ein paar junge Männer, die auf umgehängten Papptafeln „Free Hugs“ offerieren. Die meisten hier stellen jedoch die Insignien der amerikanischen Popkultur zur Schau – Röhrenhosen, Cowboystiefel, beeindruckende Pracht-Bärte und Sonnenbrillen -, viele tragen immerhin einen Gitarrenkoffer; achtzig Prozent der Menschen, die uns auf der 6th Street begegnen, sehen aus wie Rockstars, dreißig Prozent sind es womöglich sogar. Eben kommen mit ratlosen Gesichtern Noah And The Whale um die Ecke geschlurft: „Wo soll man nur hin, welches Konzert soll man besuchen?“ Das Angebot ist schlicht zu groß. Zudem twittern immer wieder die wildesten Neuigkeiten herein: Kanye West sei in der Stadt, heißt es etwa, derweil ein paar Blocks weiter Jack White höchstselbst den gelben Bus seines Labels Third Man Records auf einen Parkplatz steuert, aussteigt und spontan ein paar Songs zum Besten gibt. Aber heute Abend zieht es die meisten ein Stück hinaus aus der Stadt, an den Lady Bird Lake, wo unter dem wolken-losen Himmel die Strokes spielen. Auch wir folgen dem Strom über die Congress Avenue Bridge.

Es hat einen eigentümlichen Reiz, sich hier die Strokes anzuschauen. Die notorisch durchcoolten New Yorker funktionieren in den USA längst als all american band für die ganze Familie: Viele haben Picknickdecken ausgebreitet, die teilweise allenfalls achtjährigen Sprösslinge auf den Schultern ihrer Väter halten Leuchtschwerter in den Händen und tragen Strokes-T-Shirts.

Kurz bevor es losgeht, bietet sich unter der Congress Avenue Bridge allen, die mal kurz etwas anderes als Musik brauchen, ein einmaliges Spektakel: Hier steigt allabendlich die größte urbane Fledermaus-Population in den Himmel auf: Geschätzte 750.000 Tiere sollen es sein, die pünktlich zum Sonnenuntergang von ihren Behausungen unter der Brücke in den Himmel flattern. Doch auch hier blenden, wie überall in der Stadt, aus zig Clubs und von unzähligen Bühnen Musiken ineinander und verbinden sich zu einer einzigen großen Kakophonie: Der vom anderen Seeufer herüberwehende Neo-Achtziger-Pop der Strokes-Vorband Twin Shadow mischt sich mit Mariachi-Getröte, und irgendwo scheint eine Red-Hot-Chili-Peppers-Coverband ihr schändliches Werk zu verrichten. Der größte Luxus hier beim SXSW: fünf Minuten ohne Musik. Die Fledermäuse aber scheint das Gedröhne nicht zu stören. Dann ist es dunkel, und die Strokes spielen. Während des Konzerts herrscht Abiturfeier-Stimmung, selbst jene, die nicht aussehen, als zählte Indierock zu ihren Fachgebieten, singen hier jede Zeile von „Take It Or Leave It“ mit.

Austin ist nicht Texas. Das merkt man recht schnell. Die texanische Bundeshauptstadt gilt als ausgesprochen liberal. Ein Euphemismus, zumindest während des fünftägigen SXSW-Festivals: Eine Marihuana-Glocke hängt über der Stadt; die an ihren dicken Karren lehnenden Cops kümmert das wenig, sie verdingen sich hier lediglich als Straßensperre oder als Auskunftsgeber für betrunkene Rock’n’Roll-Touristen auf der Suche nach bestimmten Clubs. Auch außerhalb des fünftägigen Festivals ist Austin ein Musik-Mekka: Die Stadt sieht sich gerne als „Live Music Capital of the World“; jeder Einwohner hier scheint in mindestens zwei Bands zu spielen, wem das nötige Talent fehlt, der hat immerhin einen Club oder einen Plattenladen. Es passt nur zu gut, dass Richard Linklater hier 1991 seinen legendären Film „Slacker“ ansiedelte.

Keep Austin Weird“ lautet das Motto der übersichtlichen Stadt, und dieser Satz brüllt einem von so vielen Tassen, Postern und Batik-T-Shirts entgegen, dass man ihn bald nicht mehr sehen kann. Einer, der das Motto stets ausgesprochen wörtlich genommen hat, spielt während des Festivals in der überklimatisierten Austin Music Hall: Roky Erickson. Erickson ist eine tragische Legende der Rockmusik: 1966 war er mit den 13th Floor Elevators Miterfinder des Psychedelic Rock. Doch die Freude an der chemischen Bewusstseinserweiterung währte nicht lange: Um 1968 fiel Erickson durch immer seltsameres Verhalten auf. 1969 wurde er auf Basis der Diagnose „Paranoide Schizophrenie“ in einer psychiatrischen Klinik in Houston mit Elektroschocks behandelt. Im selben Jahr verhaftete man ihn wegen Drogenbesitzes. Ericksons Anwälte plädierten mit Hinweis auf die geistige Verwirrung ihres Mandanten auf „unschuldig“ – vergeblich.

Nach diversen Fluchtversuchen aus dem Gefängnis von Austin verlegte man ihn schließlich in eine Haftanstalt für geistig verwirrte Kriminelle, wo er abermals mit Elektroschocks behandelt wurde. Als Erickson in den Siebzigern entlassen wurde, behauptete er mehrere Jahre lang, von Marsianern beherrscht zu werden, die in seinem Körper hausten. Es ist somit ein kleines Wunder, Erickson, heute ein graubärtiger 63-Jähriger, überhaupt auf einer Bühne zu sehen. Begleitet wird er an diesem Abend von den nicht minder legendären Wüsten-Punk-Veteranen The Meat Puppets aus Phoenix, Arizona, deren Mitglieder ebenfalls schwer von den Versuchungen des Rock’n’Roll gezeichnet sind. Die Musiker haben sich nur einmal getroffen, von gemeinsamen Proben wurde ganz abgesehen. Was die vier Gezeichneten hier gemeinsam veranstalten, ist weitaus halsbrecherischer als vier Strokes-Konzerte gleichzeitig: Erickson grinst während des gesamten Auftritts, die Meat Puppets poltern nur so dahin, im Bühnenhintergrund tanzt eine ältere Dame im viel zu engen Kostüm. Wir stehen mit offenem Mund herum und wissen gar nicht, wo wir hinschauen sollen.

Anderswo in der Stadt geht es geschäftsmäßiger zu. Die in Berlin ansässige Initiative Musik sorgt dafür, dass auch deutsche Bands hier unterkommen: das Elektro-Pop-Duo Hundreds etwa oder Norman Palm, der Laptop-Liedermacherei auf luftigen Tanzpop im Stil von Whitest Boy Alive treffen lässt. Heute veranstalten die rührigen Initiative-Musik-Leute mit den Kollegen vom Reeperbahnfestival und anderen deutschen Musikaktivisten auf der 6th Street unter dem Banner „Meet the Germans“ ein Get-Together bei Kölsch und Ochsenbäckchen: Während drinnen junge Damen in pseudo-bayerischer Tracht Schmalzstullen reichen, bieten oben auf dem Balkon erst die Kölner Durchstarter Brandt Brauer Frick ihren Anzugträger-Elektro-Jazz dar, dann sorgen Schlachthofbronx für hysterische Tänze bei knapp dreißig Grad. Drinnen vertreiben wir uns derweil die Zeit, die Kellnerinnen immer wieder das Wort „Schmalzstulle“ aussprechen zu lassen.

Ein paar Straßenecken weiter liegt das riesige Convention Center, das zwischen all den Tex-Mex-Buden aussieht wie ein Raumschiff aus Beton. Hier werden allerhand Panels und Workshops abgehalten: „Brands As New Labels“ heißt eine der seriöseren Veranstaltungen. Andere tragen Titel wie „I’m Not Old, Your Music Does Suck“ oder „Three Drummers Walk Into A Bar“. Duff McKagan, der ehemalige Guns-N’Roses-Bassist wiederum erzählt unter dem Banner „Duffonomics“ etwas über Selbst-Marketing; Moby wuselt durch die Menge und sieht wie immer aus wie ein T-Shirt-Verkäufer. Auch Pressekonferenzen finden hier statt: In einem Raum gibt Yoko Ono interessante Fitness-Tipps zum Besten: „Walking. Man muss nichts machen außer gehen.“ Und, ja, natürlich würde John Lennon, wenn er noch lebte, twittern.

Auch hier im Convention Center spielen Bands – warum auch nicht: Beim SXSW spielen in jeder Telefonzelle Musiker. Doch niemand hier gibt auch nur ein mittelmäßiges Konzert. Weder die Vaccines im Stubb’s (die in etwa zwanzig Minuten mindestens zehn Singles spielen und uns den Plan verwerfen lassen, englische Gitarrenbands mit „NME“-Pushing künftig zu ignorieren) noch Okkervil River, die hier als prominente Söhne der Stadt so etwas wie die Band der Herzen sind und an den fünf Festivaltagen zehn Mal auftreten. Lediglich der Auftritt der Bright Eyes am vorletzten Abend am Lady Bird Lake vermag nicht sonderlich zu begeistern. Nach all den großartigen Konzerten wirkt Conor Oberst nur wie ein etwas selbstgefälliger Sonnenbrillen-Rockstar. Wir planen, den Abend bei Schlachthofbronx ausklingen zu lassen, die im Friends die Luft brennen lassen, fallen aber bald schon erschöpft vornüber. Schade, dass wir es nicht mehr zur als Live-Sensation gepriesenen Jim Jones Revue geschafft haben.

Am Sonntag dann ist der Spuk vorbei und Austin wirkt wie ausgestorben. An den Flughäfen checken lauter bärtige Menschen mit Gitarrenkoffern ein, in der Stadt werden die Bühnen abgebaut. Noah And The Whale kommen, sichtlich gezeichnet von den letzten Tagen, aus ihrem Hotel getorkelt. Am Abend gehen wir ins Emo’s, um hier ein Abschiedsbier zu trinken. Beim Reinkommen wartet eine Überraschung: Auf der Bühne steht das Drum-Set der Jim Jones Revue. Was haben wir doch für ein Glück. Nach zehn Minuten ist auch die Band da und macht sich daran, den Raum hochzukochen. Man merkt: Austin braucht das SXSW nicht, aber das SXSW braucht Austin. Wir gehen an die Theke, um uns unser Bier zu holen. Der Barkeeper schaut grinsend auf unsere Handrücken: Die dicken Edding-Kreuze sind immer noch nicht ganz abgewaschen. „Tja, guys“, grinst er jovial, „wie alt seid ihr denn? In Texas solltet ihr besser immer eure Pässe dabeihaben.“