Interview

Queere Helden: Placebo im Interview


PLACEBO sind die großen Wegbereiter non-heterosexueller Sichtbarkeit im Charts-Pop dieser Tage. Ohne sie wären Lil Nas X und Girl In Red kaum denkbar. Wie konnte es so weit kommen? Und warum sollten wir Placebo auch nach ihrer neuen, achten Platte NEVER LET ME GO tatsächlich niemals gehen lassen? Eine kleine Zeitreise – samt klärendem Anruf bei Placebo-Mastermind Brian Molko im London der Gegenwart.

„Placebo: die schweinischste Band in Britannien“ titelt die Musikzeitschrift „Select“ im Oktober 1998 auf ihrem Cover mit einer Fotografie von Placebo-Sänger Brian Molko darauf. Molko (blutroter Lippenstift, pechschwarzer Bob, also ganz in seinen verführerischen Elementen) wirkt darauf, wie so oft davor und danach, wie ein abtrünniger Engel. Ein gefallener und sich danach und dafür umso kraftvoller emporschwingender Engel. Auf dem „Select“- Coverfoto damals knallen aber zwei Dinge noch mehr als die grellpinken Lettern mit der eindeutig zweideutigen Sex-Einladung „hello boys“: Brian Molkos lustvoll entblößte Brust-Nippel, die er uns, wie zum Milk-and- More-Absaugen, freilegt. Eines dürfte doch jedem Käufer (und jedem prüden Kiosk-Zaungast) des „Select“-Magazins im Oktober 1998 bis hoch in den Norden, nach Liverpool und Manchester, völlig klar gewesen sein: Der bisexuelle Brian Molko von Placebo ist ein neuer Typus britischer Popstar. Und vor allem: völlig Anti-Zeitgeist. Denn wir befinden uns ja gerade auf der Klimax, der Hochzeit des britischen Nationalkulturerbes Britpop, wo Oasis sich „supersonic“ fühlen und daher im gleichnamigen Song fleißig Gin mit Tonic ordern, Prost! Die Themen von Placebo sind ganz andere: Ihre Songs handeln von sexueller Fluidität, toxischen Beziehungen, mentaler Gesundheit (oder, mehr noch: deren Gegenteil). Rückblickend kann man sagen: Was Placebo damals an Sujets in die Spur schickten, in einem Charts-Rock-Kontext, das klingt schon erstaunlich stark nach 2022.

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Aber damit nicht genug: Besagtes „Select“-Magazin, das 1998 Brian Molko und somit das Gesicht der „schweinischsten Band Britanniens“ aufs Cover hievt, hat die epochale Marke „Britpop“ vormals kultiviert wie kein anderes Medium. Warum also tun sie das? Warum bringen sie den großen Antipoden, den größten Antichrist zum Britpop auf ihr Cover? Es war doch eigentlich die Zeit von Macho-Blokes in Heten-feschen Poloshirts und Parka-Mänteln und mit Fischerhüten auf. Placebo hingegen waren queere Crossdresser, sie trugen Spitzenstrumpfhosen, Strapse, Kleider, bauchnabelfreie Mieder-Crop- Tops, und sie ließen sich so viel pechschwarzen Kajal über ihre jungen, schönen Anti-Engelsgesichter fließen, dass noch Bill Kaulitz’ Urenkel im 22. Jahrhundert davon zehren könnten. Placebo waren von Anfang an eine Band mit starkem Image. Ob man sie liebte oder hasste – geballte Aufmerksamkeit zogen sie auf jeden Fall auf sich.

Der Aufstieg von Placebo, deren selbstbetitelte Debüt-Platte PLACEBO 1996 auf Platz 5 der UK-Album-Charts schnellte, ist bemerkenswert, in wirklich jeder Hinsicht. Im Durchbruchs-Hit „Nancy Boy“ (im Januar 1997 auf Platz 4 der britischen Single-Charts) singt Brian Molko mit seiner unverkennbar metallisch-nasalen Stimme dermaßen unverschämt, also schamlos, von einem effeminierten Typ, der mit allerlei anderen Männern bumst, wie es das im britischen, nein, überhaupt im Charts-Rock zuvor nie gegeben hat. „Wer waren noch mal die Jungs mit dem ‚Nancy Boy‘- Song?“, soll David Bowie in seinem Tourbus gefragt haben, als ihm, verdammt, kurzerhand sein Support-Act (Morrissey) absprang. Und: „Lass doch die einspannen! Wir brauchen die!“ Bowie wurden nämlich frühe Demos von Placebo zugespielt, noch vor deren erstem Release. Bowie ist begeistert, nimmt sie mit auf Tour, zwei Jahre lang – und bleibt lebenslang ein Mentor für Brian Molko. Von da an also gibt es kein Halten mehr für Placebo alias Brian Molko, Stefan Olsdal (am Bass) und Steve Hewitt (der Robert Schultzberg, den Placebo-Drummer der Anfangstage, 1996 am Schlagzeug ersetzte). „Wir wollten die größte Band der Welt werden“, sagt Bassist Stefan Olsdal, Molkos Partner-in-Crime, 2018 im Interview mit „Vice“ über jene Zeit. Und wahrlich: Sie wurden, wider Erwarten, tatsächlich Mainstream, obwohl sie doch eigentlich subversiver Substream waren. Musik von Outsidern für Outsider, von Freaks für Freaks? Einerseits ja. Andererseits: Sage und schreibe 13 Millionen Tonträger haben Placebo bis heute verkauft.

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Am größten sind sie in Frankreich, wo vier ihrer Alben auf Platz 1 der Album-Charts thronten, SLEEPING WITH GHOSTS (2003) gar mit Doppelplatin-Status. Ihre Konzerte führten Placebo auf sechs Kontinente in über 70 Länder. 1997 rockten sie zum 50. Geburtstag David Bowies den New Yorker Madison Square Garden – und gingen mit U2 auf Stadiontournee. Aber auch für ihre regulären Headliner-Touren werden noch heute, ein Vierteljahrhundert später, die großen Locations gebucht: Wembley Arena in London oder, hierzulande, Mercedes-Benz-Arena in Berlin, wo ansonsten Lady Gaga, Rihanna oder auch die großen Placebo-Vorbilder The Cure spielen. Placebo waren damals die androgyne Alternative zum Britpop. Aber vom Britpop redet schon lang kaum noch wer, und Placebo sind immer noch da, gigantisch. Offensichtlich geben sie den Menschen etwas Wertvolles, das andere Bands so nicht können – obwohl Placebo dafür auch viel Spott ertragen mussten, etwa von „Pitchfork“, die mal schrieben, Placebo seien „campy Lyrik-Melodrama, das gut bei Akne-gebeutelten Heranwachsenden ankommt“ und ganz besonders bei „zynischen, verunsicherten, sexuell-ambigen männlichen Jungfrauen“ Uff. Da wurde wohl ein Zyniker verunsichert.

Brian, was meinst du: Fehlte 1994, als ihr in London mit Placebo angefangen habt, ansonsten der queere Glam in der Musik?

BRIAN MOLKO: Wahrscheinlich schon. In den 1980ern gab es Leute wie Genesis POrridge und Psychic TV und Thee Temple ov Psychick Youth. Aber das war schon auch sehr esoterisches Zeugs! Echter Underground. Es gab weniger nichtbinäre Menschen da draußen; Leute, die sich weigerten, den Konventionen zu entsprechen. Aber weißt du… wir hatten damals schon Boy George! Ich liebe seine Stimme. Ich liebe die Verwirrung, die er stiftete – etwa als er im Fernsehen mit „Do You Really Want To Hurt Me“ auftrat. Das war so ein Moment wie mit David Bowies „Starman“ im britischen Fernsehen. Diese Leute haben mich geprägt. Ich hab’ die Rebellion gegen die Heteronormativität nicht selbst erfunden.

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Okay, aber wie war die Lage Mitte der Neunziger?

Als wir mit Placebo anfingen, gab es im UK eine Art Revival des 60s-Sounds. Man nannte das Britpop. Und wir folgten einer anderen Tradition. Der Tradition von David Bowie, Boy George, Iggy Pop und Lou Reed. Eine Tradition, die zurück bis Little Richard reicht. Der hat wahrlich sein Leben riskiert, um sich auf die Weise zu zeigen, wie er war. David Bowie und ich haben oft von Little Richard geschwärmt: Wie provokant und vor seiner Zeit er war! Für uns, für David und mich, hat alles mit Little Richard begonnen. Der ganze Rock’n’Roll!

Du hast Kleider und Make-up getragen, als das für Männer als No-Go galt. Woher hast du eigentlich den Mut genommen, um das zu tun?

Es fühlte sich notwendig an. So mussten wir uns ausdrücken, ich hatte keine Wahl. Und plötzlich standen mir die Bühnen frei, um etwas zu bewirken. Ich stand nicht philosophierend in Opposition zur Mainstream-Musik im UK derzeit. Die haben ihr Ding gemacht, ihre Tradition, und wir unsere. Es war etwas ganz Persönliches, zuallererst. Eine absolute Notwendigkeit, uns so zu präsentieren, wie wir uns identifizierten. Dieses Nicht-Binäre war damals ansonsten nicht so sichtbar, kulturell, im Mainstream, anders als heute. Und, ja, ich verstand damals auch, dass das politisch wurde – dass ich die Chance bekam, gegen Homophobie zu kämpfen.

Worauf hast du damals gehofft?

Dass die Homophobsten mich erst mal für eine Frau halten und sexy finden – und sich dann hinterher zu Hause ein paar Fragen stellen müssen. Und ja, all dies hat mich darin bestärkt, mit der Zeit noch stärker zu provozieren. Und dies politisch zu tun. Aber zuallererst war das meine Form, mich selbst der Welt zu zeigen: „So sind wir – lass es dir gefallen oder verpiss dich!“ Also woher wir den Mut nahmen? Wir hatten ein gewisses Draufgängertum. Wir hatten Tapferkeit und waren arrogant. Und wir dachten auch, es wäre ein Spaß, Ideen zu ficken. Wie Boy George. Nach all dieser Zeit sollte das tatsächlich noch Leute schockieren? Aber ja, so war es. Also lass uns damit ein bisschen Spaß haben!

So rasant der unfassbare Aufstieg, der queere Sturm und Drang von Placebo in den Neunzigern auch vonstattenging, muss man doch sagen: Sie kamen nicht aus dem Nichts. Zwar sind die Placebo-Bengel Brian Molko und Stefan Olsdal (die in Luxemburg auf dieselbe amerikanische Schule gingen) gerade mal Anfang 20, als sie sich 1994 in der Londoner U-Bahn, in der Kensington Station, zufällig wiedersehen und Brian Molko seinen zukünftigen Bassisten spontan zu seinem Gig mitschleppt, den er mit dem zukünftigen Placebo-Drummer Steve Hewitt (damals noch unter dem Bandnamen Ashtray Heart) spielte – die Geburtsstunde von Placebo. Aber obgleich sie blutjung sind, haben sie ein klangliches Koordinatensystem aus Glam und Goth und Grunge, auf das sie sich beziehen: Sonic Youth und Depeche Mode. Can. The Cure. Pixies. New Order. Und vor allem: der androgyne Art-Glam-Rock von David Bowie und der pissige Punk von Iggy Pop and the Stooges. Zwar klingen Placebo allein schon der einmaligen Stimme von Brian Molko wegen immer original nach Placebo. Aber einiges haben sie sich doch bei anderen Bands abgelauscht: Dass Placebo ihre Gitarrensaiten anders stimmen als es Standard wäre (früher höher, inzwischen sogar eher tiefer), geht klar auf Brian Molkos Obsession für Sonic Youth zurück. Und natürlich passt es blendend zu queeren Spirit, von der Klangkonvention abzuweichen.

Lyrisch sind Placebo in der düsteren Romantik beheimatet. Und mehr noch als dem schwulen Oscar Wilde sehen sie sich den französischen Symbolisten Arthur Rimbaud und Paul Verlaine verbunden, die übrigens zeitweise ein Liebespaar waren. Oder auch Charles Baudelaire, der mit seinem in die Gossen zu den Nutten blickenden Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ die moderne Poesie begründete. Wenn man die Band selbst fragt, warum sie nun ausgerechnet in Frankreich so krass erfolgreich sind, nennen sie übrigens diese lyrischen Frankreich-Links als Erklärung. Zweifelsohne wird es aber auch daran liegen, dass Brian Molko und Stefan Olsdal, in Luxemburg geschult, ein formidables Französisch sprechen, im Radio und auf Konzerten, was die Franzosen bei einer Band von internationalem Kaliber einfach nicht gewohnt sind und natürlich abfeiern. Fun Fact: In drei Placebo-Songs singt Brian Molko sogar auf Französisch.

Hört man sich durch die Diskografie von Placebo, fällt insgesamt auf: eine Entwicklung von einer Art Neo-Punk-Rock zum Power Pop. Im Lauf der Zeit wurden auch die Texte mehrdeutiger; die Band kultivierte ihre Ambiguitäten. Während die frühen Lyrics oftmals auto-aggressiv sind, richtet sich die Wut zunehmend gegen die Außenstrukturen, samt Politik und Religion. Auch die Kompositionen sind komplexer geworden: mehr Samples, mehr Klavier, mehr Synthies und Geigen. War das Debüt PLACEBO (1996) noch ein Punk-Party-Album, war der Zweitling WHITOUT YOU I’M NOTHING (1998) dann Konterbier-Emo-Kater nach der Party: noir-balladesk. BLACK MARKET MUSIC (2000) war Melancholia- Rock der experimentelleren Gangart, samt Schnipseln aus HipHop, Jazz und auch Electro. SLEEPING WITH GHOSTS (2002) geriet noch edgy-elektronischer, mit Produzent Jim Abbiss, der auch Toningenieur bei Björks DEBUT (1993) war. MEDS (2006) führte vom Sound her dann wieder back to the roots: gitarriger, dreckiger. 2009 ging es (mit dem neuen, damals 22 Jahre jungen Drummer Steve Forrest, quasi Frischzellenkur) mit BATTLE FOR THE SUN weg vom Major-Label Virgin hin zum Indie-Label PIAS. Die Band war spürbar in der Neufindung, klang aber auch bunter. LOUD LIKE LOVE (2013) schloss an den Vorgänger an, wenn auch mit mehr Balladen, etwa dem finalen „Bosco“. Insgesamt ist über die Jahre hinweg einiges aber auch erkennbar gleich geblieben: Immer wieder hört man in Placebo-Songs diese typisch treibenden Achtelnoten auf der Rhythmus-Gitarre, wie, sicherlich am bekanntesten, im Intro zu „Every You Every Me“, der im Vorspann des Teenie-Kultfilms „Eiskalte Engel“ 1998 zum Megahit wurde.

Schaut man nur auf die Studio-Alben von Placebo, so könnte man meinen, dass sie seit 2013 von der Bildfläche verschwunden waren, bis zum achten Album NEVER LET ME GO nun. Das wäre allerdings ein Trugschluss: 2015 spielten sie ein akustisches MTV-Unplugged-Konzert, das als Live-Album erschien. 2016 und 2017 gingen sie auf ihre fulminante Jubiläumstour „A Place For Us To Dream – 20 Years Of Placebo“, samt den Songs „Nancy Boy“ und „Pure Morning“, die Placebo seit einer Dekade nicht mehr gespielt hatten. Passend zur Tour gab’s die Compilation-Doppel-CD A PLACE FOR US TO DREAM (2016) und LIFE’S WHAT YOU MAKE IT (2016), eine EP, inklusive der Single „Jesus’ Son“. Danach: immer wieder Konzerte, auch auf vielen Festivals, wo Placebo begehrte Headliner sind. 2019 begannen dann die Arbeiten zum neuen Album NEVER LET ME GO. Der Lockdown hat dies etwas verzögert. Ursprünglich sollte die Platte ein Jahr früher erscheinen, als sie dies nun tut. Aber das Warten hat sich gelohnt: Placebo klingen wieder nach Placebo, auch nach dem dritten verschlissenen Drummer und offiziell als Duo nun. Aber sie klingen auch sehr frisch. Sie haben nicht bloß neue Themen für sich entdeckt (digitale Überwachung und die Öko-Apokalypse), sondern auch, mal wieder, neue Sounds: Das Album beginnt mit einem Harfen-Loop, den Brian Molko im Drumcomputer-Tool auf seinem iPad programmiert hat. „Boom!“, schwärmt er, wenn er davon erzählt. „Wir hatten einen Loop, der punky und funky ist und aggressiv verdreht und fesselnd und mysteriös.“ Wenn er so spricht, klingt Brian Molko so, als wäre er nicht 49, sondern wieder Anfang 20. Aber auch ein anderes Thema, das sich durch viele Placebo-Songs zieht, ist wieder zurück: die Drogen.

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Brian, euer neuer Album-Opener „Forever Chemicals“ hat mich etwas verstört mit Zeilen wie „it’s all good when nothing matters“. Ist das ein Abfeiern von gefühlstötendem Drogenkonsum?

BRIAN MOLKO: Aber nein, ich meine das ironisch! Wenn ich singe „alles ist toll, wenn man gar nichts mehr fühlt“, dann spricht der pure Sarkasmus aus mir.

In „Happy Birthday In The Sky“ vom neuen Album singst du auch „give me my medicine“.

Da singe ich von Bewältigungsmechanismen. Also darüber, wie wir mit Schmerz klarkommen. Der Song handelt ja davon, dass die Liebe deines Lebens ermordet wurde. Der Typ im Song weiß nicht, wohin mit seinem Verlustschmerz. Denn der ist unerträglich.

Das wiederum erinnert an „Without You I’m Nothing“ von 1998, dein Duett mit David Bowie.

Gewissermaßen. Aber in „Without You I’m Nothing“ geht es mehr noch um gegenseitige Abhängigkeit und um Selbstmord. Viele Leute sagen mir, dass sie den Song bei ihrer Hochzeit gespielt haben. Dann liegt mir auf der Zunge: „Ihr habt schon verstanden, dass das kein Liebeslied ist?“ Aber ich sage das dann doch nicht. Ich will die romantischen Träume von Menschen nicht ruinieren.

Aber „Beautiful James“, die Lead-Single vom neuen Album, ist ein Liebeslied, oder auch nicht?

Ja, doch, das ist ein Liebeslied (druckst herum). Ja, doch. Warum nicht? Für mich transportiert das Lied viel Freude. Es hat diesen Du-und-Ich-gegen-die-Welt-Spirit.

Die Queerness, die in früheren Place- bo-Songs zum Ausdruck kommt, ist oft nicht bloß rau, sondern düster und verdrogt, in Songs wie „Burger Queen“, „My Sweet Prince“ oder auch eurem größten Hit „Every You Every Me“. Gab es keine glücklicheren Drehbücher für queere Storys?

Das lag wahrscheinlich an den schlechten Drogen und am Katerfrühstück. Eine Zeitlang waren wir entweder high oder hungover. Wenn du auf Dauer so lebst, wird dein Blick durch schmutziges Glas getrübt; und du ziehst die Düsternis geradezu an. Ehrlich gesagt: Ich fand das damals faszinierend und auch sexy.

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„Beautiful James“ weicht da auf eine fröhlichere Weise vom heteronor- mativen Skript ab. Haben dir solche queeren Liebeslieder eigentlich in deiner Jugend gefehlt?

Weniger, als man meinen könnte. Es gab immer Leute, die mutig genug waren, ein Liebeslied zu covern, das sozusagen aus der Sicht des anderen Geschlechts geschrieben war – und dabei trotzdem die Pronomen nicht zu ändern. Oder nimm „Starpower“ von Sonic Youth! Und von David Bowie kommt natürlich auch viel. Definitiv haben das schon andere vor mir getan. Ich glaube aber doch, dass ich mit „Broken Promise“ (2006) der Erste bin, der ein Duett über Ehebruch geschrieben hat, das von zwei Männern gesungen wird – nämlich Michael Stipe und mir. Wenn es so wäre, wäre es schon ganz cool, oder? (lacht)

In der Tat. Inzwischen findet man, dank euch, vielerorts Queerness im Mainstream-Pop. Was meinst du: Verliert sie damit ihr subversives Potenzial?

Ich glaube, queere Kultur wird sich immer Methoden bewahren, erhört zu werden – und subversiv zu bleiben. Ich persönlich stehe zu hundert Prozent hinter den Leuten, die das tun. Ich finde aber auch: Man kann immer spüren, ob jemand es ernst meint oder einem nur was vorgaukelt. Dann ist Queerness bloß ein fancy Kostüm.

Dieser Text erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 04/2022. Hier bestellen.