Bring The Noise

Wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß Musik unser Leben, Denken. Fühlen bestimmt, staunt man immer wieder, wie wenigen es gelingt, klug, spannend und erhellend darüber zu schreiben. Simon Reynolds, seit über 20 Jahren als einer der letzten aufrechten Vertreter der Kritischen Theorie mit marxistisch-situationistischem Hintergrund für „Melody Maker“, „Mojo“, „Uncut“ und diverse andere Medien tätig, ist so einer: Selbst aus seinen weniger inspirierten Texten sprühen Funken der Erkenntnis, und oft hat man nach dem Lesen das Gefühl: Genau so würde ich das auch sagen! Nur dass man das vorher noch nicht ahnte. Reynolds‘ erste Meisterthemen waren Punk. New Wave, Post-Punk, als Musik, aber auch als Aufhänger für Geschlechter-, Bewusstseins-, Politdebatten: er erfand den Begriff „Post-Rock“, stürzte sich in die Rave-Szene und landete schließlich bei den Extremen der gegenwärtigen Popkultur: HipHop und (weißem) Alternative/Indie-Rock. Deren „Aufschlüsselung“ (Eckpunkte: von Morrissey bis Grime. Kanye West bis Nick Cave) dokumentiert dieses Buch, das 20 Jahre Beobachten, Hören, Denken und Schreiben zusammenfasse Reynolds gelingt der Seiltanz zwischen Begeisterung und kritischem Abstand selbst da, wo seine Liebe aufflammt. Etwa bei Public Enemy, die das Dilemma zwischen Radikalanspruch und Kommerzrealität verkörpern, mit dem kein Popgenre sozu kämpfen hat wie HipHop (Punk, nicht vergessen, war eine Revolution innerhalb der Business-Strukturen). Oder am anderen Ende des Popuniversums: bei Hüsker Du, deren pyramidales Warehouse: Songs And Stories er so blendend beschreibt, dass man es beim Lesen im Kopf zu hören glaubt, danach aber mit neuen Ohren hört. Unvermeidlich, dass man mal anderer Meinung ist als der Autor, aber dass man diese Meinung erst formulieren (und spontan ändern!) kann, wenn man Reynolds‘ Standpunkt begriffen hat, ist Zeichen für kritisches Genie. Für Pop-Menschen mit Hirn: unverzichtbar.

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