Chicago – II; Chicago – Live At Carnegie Hall
Eine deprimierende Situation: Während klebrige Schnulzen wie ‚If You Leave Me Now‘ oder properer Hitparadenpop wie ‚Saturday In The Park‘ die Herzen zahlloser Rundfunker auch heute noch höherschlagen lassen, vergammelt das wirklich hörenswerte Repertoire der rockenden Blaskapelle vom Michigan See in den Schallarchiven. So kommt es denn auch, daß die ecstatischen Technotänzer dieser Tage mit dem musikalischen Warenzeichen ‚Chicago‘ (wenn überhaupt) nur noch einen Kaffeekranz alter Männer verbinden, die triefäugig und fettbäuchig das Schmalz einer längst vergangenen Epoche aufkochen. Zu Unrecht, wie eine jetzt auf CD wiederveröffentlichte Reihe von Chicago-Platten aus der ersten Hälfte der 70er beweist. Denn bevor Millionen von Alben über die Ladentische gingen und aus den selbsternannten Kindern der Revolution einen Spielkreis saturierter Dollarmillionäre mit der Aggressivität einer Wiener Kaffeehauskapelle machten, waren Chicago wirklich gut. In ihrem Frühstadium nämlich bildeten die glorreichen Sieben aus dem Herzen Amerikas textlich wie musikalisch eine Band mit beein- druckendem Biß. In ihren Lyrics geißelten Chicago das Menschenschlachten in Vietnam, in ihrer Musik suchten sie den Konsens zwischen den im Grunde artfremden Genres Rock und Jazz. Brillante, zwischen messerscharfem Stakkato und swingender Big-Band-Mucke pendelnde Bläser bedienten den anspruchsvollen Jazzfan, bis zum Anschlag verzerrte Gitarren und treibende Percussions erfreuten das rüde Rockerherz. Dabei gebärdeten sich die gebildeten Blasrocker nie akademisch, was ihnen mit Blick auf die Popularität gegenüber der handwerklich noch besseren aber eben auch elitären Konkurrenz von Blood Sweat & Tears deutliche Vorteile verschaffte. Wirkten die Songs von BS&T bisweilen verkopft und ausgeklügelt, musizierten Chicago bei aller Liebe zu ungewöhnlichen Arrangements eher aus dem Bauch. Nachzuhören noch am besten auf Album Nr. 4, dem ’71er Mitschnitt eines Konzerts in der New Yorker Carnegie Hall, der jetzt als Triple-CD vorliegt und einen Querschnitt dessen bietet, was Chicago bis zu diesem Zeitpunkt an Songs geschrieben hatten — von ’25 Or 6 To 4′ bis hin zu ‚Free‘. Verfügt die Live-Aufnahme über den Charme des Unvollkommenen, so glänzen die ebenfalls im CD-Format vorgelegten Alben ‚II‘, ‚V und ‚VII‘ durch studiotechnische Perfektion. Als das Chicago-Album schlechthin gilt Nr. 2 mit legendären Songs wie ’25 Or 6 To 4′, ‚Movin‘ In‘ und ‚Make Me Smile‘. Nicht ganz so gut, wenn auch immer noch weit über dem Durchschnitt: die Alben ‚V und ‚VII‘. Doch während auf Nr. 5 in Songs wie ‚Dialogue‘ und ‚State Of The Union‘ noch kräftig politisiert wird, markiert Chicagos Siebte die Trendwende: weg von der Politik, hin zur Romantik (was Lovesongs wie ‚Searchin‘ So Long‘ unterstreichen). Daher: Wem das Gesamtwerk Chicagos, die im Laufe ihrer Karriere von Revoluzzern zu Softpoppern mutierten, zu opulent erscheint, sollte es mit der Compilation ‚Overtime‘ probieren. Auf ihr (2 CDs, 24 Songs) finden sich die fetzigsten Blasrocker, die swingendsten Popsongs und die schönsten Schnulzen.
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