Album und Künstlerin der Woche

Julia Holter

Aviary

Domino Records/Goodtogo

Avantgarde-Pop zwischen barocker Opulenz und Kakophonie, schwer zu dechiffrieren, doch in seiner Schönheit universell verständlich.  

Ein Wahnsinn, so geht es schon mal los. Aber so wird es nicht enden. Denn wenn nach einer gewaltigen Stunde, 27 Minuten und acht Sekunden die letzten Töne von Julia Holters fünftem Studioalbum AVIARY verklungen sind, hat man es sich längst bequem gemacht im Kopf der Kalifornierin. Wobei es „bequem“ vielleicht nicht ganz trifft: Vielmehr wird man gelernt haben, wie man um die Ecke gucken muss.  

Aber zuerst ist da eben Chaos, wenn sich im ersten Stück „Turn The Light On“ hochfrequentes Violinensirren, wirbelnde Trommeln und Holters außerweltlich hallende Stimme zu einer Kakophonie verdichten, die alle Erwartungen an ein konventionelles Popalbum wie ein schwarzes Loch absorbiert. Holter, die Marmorblasse, die wundervolle Wundersame, macht eine Ansage. 

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Seit ihrer bisher letzten Platte, dem eher songorientierten HAVE YOU IN MY WILDERNESS, galt es als ausgemacht, dass sich die Sängerin und Komponistin aus L.A. endgültig den Field-Recording-Experimenten ihrer Anfangstage ab- und dem klassischen Songwriting zuwenden wird. Sogar Einflüsse ihres Vaters Darryl, eines Folksängers aus dem Laurel-Canyon-Umfeld, wollen manche in ihrer Musik erkannt haben. Aber, Plot-Twist: Auf AVIARY pflegt Holter ihre Eigenheiten nun in aller Ausführlichkeit – und findet dabei tatsächlich die Synthese zwischen großen Popmelodien, Klassik und Neuer Musik. 

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Auch in ihrer konzeptuellen Ausrichtung bedeutet die Platte einen Spagat zwischen ihren bisherigen Werken: Für ihre frühen Alben wählte Holter ein konkretes literarisches Werk als Referenz, etwa Euripides antikes Drama „Hippolytus“ (TRAGEDY) oder die Novelle „Gigi“ von Colette (LOUD CITY SONG), während HAVE YOU IN MY WILDERNESS ohne historischen Überbau auskam.

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AVIARY wird nun lose zusammengehalten von einer Metapher, die Holter während des Entstehungsprozesses in den Bann gezogen hatte: „Ich befand mich in einer Voliere voller kreischender Vögel“, heißt es in einer Kurzgeschichte der libanesischen Schriftstellerin Etel Adnan. Ein Satz, der Stoff für Höllentrips liefern könnte, Holter aber stattdessen die Steilvorlage für Reisen ins Reich des Unterbewussten und Diffusen gibt: Die titelgebende Voliere (engl. aviary) dient ihr als Metapher für den mensch-lichen Geist, in dem Erinnerungen herumflattern wie unruhige Vögel.

Und so gleiten durch die Songs auf AVIARY Musik- und Textfragmente aus verschiedenen Epochen der Geschichte wie schönschweifige Federwesen; in „Voce Simul“ ist es Holters eigene vervielfachte Stimme, die uns heimsucht wie ein Geisterschwarm, bevor sie sich im Äther verliert. Und selbst in „Whether“, dem kürzesten Song des Albums, hat Holter alle Mühe, die Gespenster im Zaum zu halten, die das von strenger Rhythmik getriebene Popstück  in neue Richtungen zerren wollen.  

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Fundament für all das ist ein Sound zwischen von retrofuturistischen Synthies getragenem Ambient und morgennebeligem Dream Pop, der manchmal beinahe mystisch schimmert. Trotzdem kratzt Holter so gut wie nie an der Grenze zum Kitsch, auch, weil sie immer wieder Auswege aus dem Schönklang findet: Hier driftet eine Ballade gen Avantgarde-Krach ab, da findet „Underneath The Moon“ urplötzlich zu einer Art lockerem, fast tropischem Groove, dort beschwört Holter in „I Would Rather See“ Robert Wyatts psychedelisch-unheilvolle Magie herauf.  

AVIARY gleicht einer Wunderkammer, in der ständig neue Eindrücke um die Aufmerksamkeit buhlen. Es ist eine große Leistung Holters, dass einem dabei nicht der Kopf platzt. So mühelos scheint diese eigensinnige Bildungsbürgermusik ihr aus den Fingern zu fließen, dass man die literarischen Referenzen gar nicht dechiffrieren muss, um die Stücke in ihrer Aufrichtigkeit schätzen zu können.

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Wer das nicht glaubt; wem all das atonale Dröhnen und barocke Tönen zu kopflastig ist, dem dürfte sich die Schönheit von AVIARY spätestens mit der Single „I Shall Love 2“ erschließen. Wenn der milchige, an die Cocteau Twins erinnernde Sound vom Brummen eines Kontrabasses gebrochen wird; wenn sachtes, sehr physisches Saitenschwingen von menschlicher Nähe inmitten dieses Traumnebels erzählt, bevor Bläser, die aus einer fernen Zeit ins Jetzt wehen, stolz von der Größe des Liebens und Geliebtwerdens künden, sind das ganz universell verständliche, bewegende Momente.  

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Man könnte nun erklären, dass der Songtext sowohl Fragmente aus Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ als auch Passagen eines alten Troubadour-Stückes enthält, dass sich überhaupt viele Versatzstücke mittelalterlicher Lieder auf AVIARY finden. Oder man legt das Handbuch beiseite und lässt die Wärme dieser Musik zwischen seine Rippen kriechen. 

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Hier AVIARY von Julia Holter im Spotify-Stream hören:

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Hier AVIARY von Julia Holter im Apple-Music-Stream hören:

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