Kurz & Klein
Die Welt ist voller Gegensätze, und wäre sie das nicht, gäbe es keine Welt. Das fängt bei den Elementarteilchen an und ist bei der Popmusik noch nicht zu Ende; auch die schwirrt und flirrt nur so vor positiv und negativ geladenen Minimalfutzeln, Bosonen, Myonen, Tauonen, Glyonen, Kaonen, Pionen, Hyperonen und Leptonen gewissermaßen, die wechselwirken, ohne dass ein nennenswerter Beobachter sie beobachtete (obwohl er, ohne es zu ahnen, zu einem nicht geringen Teil aus ihnen besteht). Was vom Gewimmel ins große Rezensionstheater nicht hineinpasst, landet in Kisten, mit denen übersättigte Zeilenverfertiger sich in den wochenendlichen Garten zurückziehen dürfen, damit sie dort auch noch was zu tun haben. Klappen wir also den Klappstuhl aus und die Ohren auf.
Das Schlimmste zuerst: K.I.Z. packen auf ihren hahnenkampf (Vertigo/Universal) lahmarschige Beats, tranige „Gags“, Dummgebrabbel und (angeblich) ein paar bedenkenswerte Sätze, nach denen man nicht suchen mag, weil der große Rest so ekel ist wie der Nacktschneckenkadaver hinter dem Komposthaufen, an dem die Schleimgenossen nagen. Dazu schreibt der Promodichter, dies sei „das Vermächtnis“. Immerhin ist demnach Weiteres nicht zu befürchten. Diametral angenehmer: BULL IN A CHINA SHOP (EMI) von Ben Hamilton. Mehr aber nicht; Hamilton ist einer dieser superbraven, grundlangweiligen Songwriter, die was anderes nicht gelernt haben, also immer weiter songwriten und nicht begreifen, dass Songs allein nichts sind, wenn sie sich nicht unterscheiden und immer nur davon handeln, dass das aktuelle Mädel das süßeste und alles Übrige weitgehend traurig ist, ach. Wer noch keine Platte hat, auf der sämtliche Varianten von Midtempo und jede Menge Phrasen a la „Time will tell“ vertreten sind, kann diese nehmen. Gleiches gilt in verstärktem Maß für Patti Scialfa, deren Play It As It Lays (Columbia/Sony BMG) hochamtlich geplayt und produziert ist, deren Songs aber durch Titel wie „Run Run“, „Like Any Woman Would“, „Town Called Heartbreak“, „Rainy Day Man“ verraten, dass Klischees gedroschen werden, bis die Saite schnarrt. Da wirken die Herzblutversuche bei aller Stimmkompetenz unüberzeugend. Dass Tradition, Historie und Gegenwart sich nicht ausschließen, zeigt Dr. Will auf ITCHING AGAIN (Downhill/NewMusic): Da brodelt, funkt, tobt und geilt das alte New Orleans so authentisch und sprühend vor Detailsouveränität, dass der Zaubertrick funktioniert und man nur die Augen schließen muss, um Tom Waits und Dr. John vor Neid erblassen zu sehen, weil ihnen das schon so lange nicht mehr so gelungen ist.
Wie ein richtiges Hobbyprojekt geht, Schrebermusik sozusagen, zeigen Anna Donarski, Richard Searle (Ex-Corduroy) und Vom Ritchie (Tote Hosen) als Wet Dog auf Perfect Crime (Rough Trade): 14 fade bis nette bis wirre Songversuche, jeder in einem anderen Stil (Vorstadtpunkrock, halbgares Shoegazing, psychedelisches Bosheitsgeflirre bis hin zur Beat-Parodie „Whole Lotta Rosie“), keiner besonders. Wie je ein Demo von 14 Hobbykellercombos – irgendwie lustig, aber wer soll das wollen? Fog werfen auf DITHERER (Lex/ Rough Trade) ebenfalls die seltsamsten Sachen in einen Topf: Beatles-Harmonien, Elektropop, Noise-Verwehungen, Panoramapathos, Spuren von so ziemlich allem, was den Pop der letzten 40 Jahre verun- und zierte. Der Mischmasch ist aber kein solcher, sondern prägnant, streckenweise vergnüglich und nur auf die Dauer arg nebelig verschroben und bierernst, verglichen mit dem Gehopse der Jungfrösche in der feuchten Nachmittagswiese. Gravy Train wiederum bestehen aus den Damen und Herren Chunx, Funx, Junx und Hunx, sind ungefähr so seriös wie ein Chinaböller aus Kaugummi und so absichtsvoll künstlich staffiert, dass das Plastikaroma, das die Sönglein auf ALL THE SWEET STUFF (Cochon/Cargo) verströmen, den Froschpapa ins Brunnenrohr vertreibt. Leider sind sie nicht so gut und auch nicht lustig, sondern verpuffen rückstandslos. Ernster meint es (vermutlich) das Kommando Sonne-Nmilch auf Jamaica (Buback/Indigo). Um herauszufinden, was Sänger Jens Rachut (Ex-Dackelblut) meint, muss man sehr genau hinhören (oder entziffern), was der Knüppelpunk der Band nicht erleichtert. Es lohnt sich aber doch; beim Zwetschgenentkernen hat man ja Zeit.
Wenn in den Abendstunden die Vogelschar anrückt, um den Kirschbaum zu plündern, braucht’s schweres Geschütz – die Kraut-Jazz-Experimentalisten Mushroom (diesmal mit Jazztrompeter Eddie Gale) geben sich mit ihrem JOINT HAPPENING (Hyena/Music Force) große Mühe, dem Federvolk den Eindruck zu vermitteln, es sei versehentlich auf dem Uranus gelandet. Allerdings könnte es sich dort unter derart entspannt-abenteuerlichen BewusstseinserWeiterungsbedingungen mordsmäßig wohlfühlen und vor Begeisterung sämtliche Artgenossen des näheren Universums zum Obstschmaus herbeiträllern. Drum holen wir Hummmel raus! Der herb-süßsaure Schaumnektar aus Minimal-Elektro-Punk, noch minimalisierteren Hardcore-Prügelanfällen und Minimalst-Dichtung, den das enigmatische Duo auf Bestäubung (www.hummmel.com) verbreitet, hat so viel Witz, Charme und Energie, dass Vogelhirne bestimmt nicht mitkommen, ohne rückwärts vom Ast zu kippen. Und hinterher, wenn die Sonne im Gesträuch versunken ist, machen wir ein Feuer, tanzen zu den progressiven, erdigen Klängen von Hallelujah The Hills um die Flammen, skandieren gemeinsam die Tagesparole: Collective Psychosis Begone (Misra/BBisland) und wundern uns gar nicht, dass wir nicht mehr allein sind, wir Bosonen, Myonen, Tauonen, Glyonen, Kaonen, Pionen, Hvperonen und Leptonen.
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