Album der Woche

Little Simz

Sometimes I Might Be Introvert

Age 101/Rough Trade (VÖ: 3.9.)

Vorhang auf – Unruhe bitte: Die Londoner Rapperin führt ein HipHop-Epos auf, in dem sich Politik und Privates verzahnen.

Bläser, Streicher, rrrrollende Drums – rumms, da steht sie wie eine wütende Kassandra, und sie rappt über ein Königreich, das in Flammen steht. Was für ein Aufschlag für eine Person, der angeblich mitunter die Worte fehlen! Wenn Little Simz ihr neues Album SOMETIMES I MIGHT BE INTROVERT mit dem Epos „Introvert“ beginnt, dürfte so ziemlich jeder begreifen, warum Kendrick Lamar sie mal als „the illest doing it right now“ bezeichnet hat: Simbiatu Ajikawo, wie die Londoner Rapperin wirklich heißt, kann poetische Brandreden, die soziale Konflikte und Kriege des Inneren zusammenführen („There’s a war inside, I hear battle cries“), sie kann Empowerment („I’m a black woman, and I’m a proud one“). Und nicht zuletzt kann sie verdammt gute Punchlines („I study humans, that makes me an anthropologist“). All das im ersten Song, dem ein gewaltiges Epos folgen wird. Vorhang auf, Unruhe bitte!

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Nach gerade mal zehn Karrierejahren ist Ajikawos Werk als Schauspielerin und Musikerin, die konsequent auf ihrem eigenen Label Age 101 veröffentlicht, kaum noch zu überblicken. Immer wieder wird sie als Zukunft des britischen Rap, ach was, als die Zukunft überhaupt beschrieben. Dabei ist Little Simz in etwa so futuristisch, wie es besagter Kendrick Lamar war, als er 2015 seinen Instant Classic TO PIMP A BUTTERFLY veröffentlichte, denn beide sind klassische Storyteller mit großen Ambitionen.

Ein Renaissancegemälde: klassische Schönheit zu zeitgemäßen Bedingungen

„I’m Picasso with the pen“, behauptete Simz auf ihrem letzten Album GREY AREA von 2019. Auf SOMETIMES… hört sie sich eher an, als versuche sie die Dissonanzen ihrer Londoner Gegenwart in einem Renaissancegemälde festzuhalten: klassische Schönheit zu zeitgemäßen, zu ihren ganz eigenen Bedingungen. Dabei spannen allein die Interludes Welten auf. „Gems“ zum Beispiel klingt ein wenig wie eine sonnenlichtdurchflutete Version von Benjamin Clementines Alien-Barock auf seinem 2017er Album I TELL A FLY.

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In Sachen Opulenz wirkt SOMETIMES… mit zig Zwischenspielen und Richtungswechseln fast aus der Zeit gefallen, ist aber ansonsten – trotz Little Simz‘ Wurzeln im britischen Grime – räumlich und zeitlich manchmal kompliziert zu verorten. Das wiederum dürfte auch ein (Teil-)Verdienst ihres Produzenten Inflo sein, einem Kindheitsfreund der Rapperin, der ziemlich sicher hinter dem superduperanonym auftretenden Projekt Sault steckt. Seit fünf herausragenden Alben tut diese aktuelle Lieblingsband of all people, was auch Simz und Inflo zusammen gelingt: Genres kreuzen, in Saults Fall von Funk bis Gospel, und trotzdem eine ganz eigene Klangsignatur bewahren. Auch auf SOMETIMES… ist es vor allem Little Simz‘ intensiver, entspannter Flow, der orchestrales Drama und Afrobeat-Einflüsse, klassischen R’n’B der späten 90er („I See You“) und knochentrockenen Postpunk („Speed“) zusammenhält.

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Und dann sind da noch die fein selektierten Gäste. Neben dem Londoner Rapper Obongjayar schaut auch Inflos Sault-Kollegin Cleo Sol vorbei. In ihrem Feature „Woman“, dem bislang schönsten Verschwesterungssong des Jahres, wogen Streicher zu wärmstem Soul so heile-Welt-haft, als sei die feministische Utopie, die hier besungen wird, längst weltumspannende Realität. „I’m not into politics but I know it‘s dark times“, rappt Little Simz in „Introvert“: Ein Gruß an alle, die sie in den vergangenen Jahren immer wieder auf ihre Funktion als politisches Korrektiv im Post-Brexit-England festnageln wollten, obwohl ihr diese Rolle so gar nicht behagt. Vermutlich ist es Little Simz sehr wohl bewusst: Auch ihr grenzenloser Rap kann den Gang der Welt nicht ändern – aber das Herz weit machen für ihren solidarischen Gesellschaftsentwurf.

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