Popkolumne, Folge 38

Xavier Naidoos Antisemit-Urteil, Conceptronica und Aquas „Barbie Girl“: Die Popwoche im Überblick


In unserer Popkolumne kommentiert unsere Autorin Julia Lorenz im Wechselspiel mit Linus Volkmann, was in der jeweils vergangenen/laufenden Popwoche so passiert ist. Heute kommentiert sie das „Antisemit“-Urteil über Xaxier Naidoo, die von Simon Reynolds entfachte Conceptronica-Debatte und die verkannte Kunst, die in Aquas Eurodance-Bonbon „Barbie Girl“ steckte.

Was, liebe Leserinnen und Leser, ist eigentlich Ihre Popmeldung der Woche? Die News, dass Kanye West morgen nun doch (ganz bestimmt sicher!) sein neues Werk JESUS IS KING veröffentlichen wird – oder dass Anna Loos und Silly so richtig böse verkracht sind? Ich für meinen Teil erinnere mich, angesichts des jüngsten Urteils über Xavier Naidoo (das ich diese Woche hochkompetent kommentieren werde) gern an den Vorschlag eines Twitter-Users aus dem vorherigen Jahr: Wenn man nicht sagen darf, dass Naidoo ein Antisemit ist – vielleicht darf man ja behaupten, er sei zwei Antisemiten?

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Urteil der Woche: Xavier Naidoo ist kein Antisemit. (Na dann ist ja gut.)

Es ist für Journalisten ohne tiefere Rechtskenntnisse ja immer ein bisschen gefährlich, Gerichtsurteile zu kommentieren. Der Schuster, die Leisten, Sie wissen schon. Deshalb mag ich mich an dieser Stelle nicht dazu versteigen, es einen Fehler zu nennen, dass man den reichsbürgerlichen Wahnwichtel Xavier Naidoo nun endgültig rechtskräftig nicht als Antisemiten bezeichnen darf. Aber so recht verstehen kann man’s nicht.

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Zur Erinnerung: Eine Referentin der Amadeu Antonio Stiftung hatte vor zwei Jahren auf einem Podium gesagt, Naidoo sei Antisemit, das sei „strukturell nachweisbar“. Der hatte gegen diese Behauptung geklagt. Schon im vergangenen Jahr untersagte das Landgericht Regensburg die Verwendung des Begriffs. Nun bestätigte das Oberlandesgericht Nürnberg das Urteil – mit der Begründung, die Referentin habe nicht nachweisen können, dass der Nicht-Antisemit Naidoo „in seinem ganzen Tun und Denken als Antisemit einzustufen ist“. Die Einschätzung der Stiftungsmitarbeiterin sei deshalb eine Meinungsäußerung, die in diesem Fall nicht höher zu bewerten ist als Naidoos Persönlichkeitsrechte.

Tatsächlich hat sich Naidoo nie dezidiert judenfeindlich geäußert. Anlass für die Äußerung sind vor allem zwei Lieder von ihm: In seinem Song „Marionetten“ von 2017 nährt er das Narrativ der korrupten, (von wem wohl?) ferngesteuerten Politikerkaste, in „Raus aus dem Reichstag“ aus dem Jahr 2009 wird es sogar noch expliziter. Da heißt es „Baron Totschild gibt den Ton an, und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist’n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Die jüdische Familie Rothschild als globale Strippenzieher: ein antisemitischer Klassiker.

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Aber hey – Schuster, Leisten: Es ist Naidoos gutes Recht, sich gegen die Bezeichnung Antisemit zu wehren. Und es obliegt der Einschätzung von Rechtsexperten, ob Liedzeilen genügen, um jemandem eine umfassend antisemitische Weltsicht zu unterstellen. Bleibt nur die Frage: Wie soll man jemanden sonst nennen, der in seinen Lyrics antisemitische Stereotype aus dem Lehrbuch bedient? Und was bedeutet das für alle Künstler, die ähnlich dechiffriert gegen Minderheiten austeilen – aber (wie Naidoo) schlau genug sind, sich dumm zu stellen, wenn man ihnen den doppelten Boden unter den Füßen wegziehen will? Pop lebt vom Spiel mit Codes und Chiffren – und kaum eine Diskriminierungsform kommt so vielgestaltig und codiert daher wie Antisemitismus. Es wäre also vielleicht vermessen, das Urteil einen Fehler zu nennen. Trotzdem bleibt man etwas ratlos zurück, wenn man bedenkt, was es für die Zukunft bedeuten könnte.

Debatte der Woche: Conceptronica

Nie sind sie zufrieden, diese Popkritiker. Vor acht Jahren mäkelte der britische Starschreiber Simon Reynolds noch (mit Recht) herum, die heutige Popkultur würde sich zu Tode recyceln, und nannte das Phänomen „Retromania”. Jetzt komponieren Künstler*innen Songs mithilfe von KI – und es ist auch wieder nicht recht. In einem vielbeachteten Essay für das US-Popmusikportal „Pitchfork“ erfand Reynolds einen neuen coolen Debattenbegriff: Conceptronica. Für ihn ein neuer Typus elektronischer Musik, wie sie etwa die Soundforscherin Holly Herndon produziere: Electronica, die nicht mehr vorrangig zum kollektiven Tanzspaß im Club gedacht sei, sondern eher in Kunsthäusern und auf Checker-Festivals zum Einsatz komme – und ohne Vor- beziehungsweise Expertenwissen kaum noch zu konsumieren sei. Für Reynolds ist das nichts unbedingt Gutes.

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Nun ist die Debatte um den Begriff in Deutschland angekommen. Es gab Interviews und gute Repliken, in dem Reynolds unter anderem (zurecht) vorgeworfen wurde, seine Position nicht ausreichend zu reflektieren: Schließlich sind viele Produzent*innen der als allzu komplex und ausschließend geschmähten „Conceptronica“ Frauen, queere, nicht-binäre oder schwarze Personen – Menschen, denen die Hinwendung zum Konzeptionellen nie dagewesene Möglichkeiten geben kann. Aus guten Gründen ist das Publikum bei experimentellen Festivals meist sehr viel weiblicher, queerer und weniger weiß als beim durchschnittlichen Rock’n’Roll-Würstchenfest. Aber eben auch: extrem akademisch. Zumindest meiner Erfahrung nach.

Schon klar, Reynolds’ Zwischenruf riecht arg nach piefigem Anti-Intellektualismus, den man ausgerechnet ihm, dem großen Kritiker des Ewiggleichen, nicht unbedingt zugetraut hätte. Es gibt schließlich keine Verpflichtung für Künstler, alle mit ihrer Musik erreichen zu müssen. Dass allerdings gerade Räume für komplizierte, experimentelle Musik neue Ausschlüsse schaffen, während sie zugleich einige alte beseitigen; dass in vielen entsprechenden Räumen recht strenge, unausgesprochene Coolness-Regeln herrschen, dass bei Podiumsdiskussionen bei den einschlägigen Festivals am Ende doch dieselben Auskenner wie überall das Wort führen – darüber darf man durchaus mal nachdenken, obwohl all diese Phänomene nicht neu sind. Nur: Progressive Kunst als „Schuldigen“ zu adressieren, ergibt wenig Sinn.

Verkannte Kunst: Aqua und ihr „Barbie Girl“ (1997)

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Sie werden es ja längst bemerkt haben: Meist breche ich mir in dieser Rubrik gewaltig einen dabei ab, in großen Worten nach dem gesellschaftlichen Mehrwert belächelter, gar verlachter Machwerke des Pop zu fahnden. Teils aus der tiefen Überzeugung, dass Underdogs nicht nur verteidigenswert sind, wenn sie insgeheim doch zu den cool kids gehören, teils aus Liebe und Solidarität für alle, die sich bei Partys ob ihres „schlechten Geschmacks“ immer von den Auskennern (weibliche Form nicht mitgemeint) mit dem Wissen um die „richtigen“ Bands vom Laptop vertreiben lassen müssen.

Aber in manchen Stücken kann man selbst, wenn man die gewagtesten Denk-Stunts unternimmt, nicht mehr erkennen als das Offensichtliche – und manchmal reicht das ja auch. Fuck Inhalt, wenn die Form so prächtig unterhält wie im Fall des allerbesten, allernervigsten Eurodance-Bonbons aller Zeiten: „Barbie Girl“, die milchzahnige Konsumismus-Hymne der lang vergessenen dänischen Band Aqua.

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Sie erinnern sich vielleicht: Eine Gruppe, deren Bestimmung war es, herauszufinden, mit wie viel Stevia-süßem, mit höchstgepitchter Stimme gesungenem Stumpfsinn man Menschen konfrontieren kann, bevor sie durchdrehen – quasi die schlumpfbunte Inversion von notorischen Nervenkostüm-Strapazierern wie Swans. Mehr Camp, genialere Neunziger-Visuals als im Video zu „Barbie Girl“ gehen nicht – mehr verklemmte Anspielungen auch nicht. Immerhin: Das Ding war seinerzeit schlüpfrig genug, um den Barbie-Hersteller Mattel zur Klage gegen die Band zu bewegen.

Vorschlag zur Güte an Simon Reynolds: Lassen Sie doch mal „Barbie Girl“ in den White Cubes und auf den CTMs dieser Welt laufen – und einer späten Analyse unterziehen!

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Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.