Popkolumne, Folge 36

„Joker“-Debatten, Big Thief und Avril Lavigne: Die Popwoche im Überblick


In unserer Popkolumne kommentiert unsere Autorin Julia Lorenz im Wechselspiel mit Linus Volkmann, was in der jeweils vergangenen Popwoche so passiert ist. Heute freut sie sich über das neue Album von Big Thief, erklärt wie Avril Lavigne für kurze Zeit der weltbeste Tomboy für Bravo-LeserInnen wurde und erörtert die anhaltende Kindesmissbrauchs- und Machismo-Debatte um Joaquin Phoenix' neuen Kinofilm „Joker“.

Bad News für Quotenhasser: Die Jury der britischen Bafta-Awards, der bedeutendste Filmpreis Großbritanniens, will ab kommendem Jahr Diversity-Regelungen für die Preisträgerserien einführen. Und wenn nun eh schon alle ganz aufgekratzt durchrechnen, ob ihr Lieblingsfilm noch auszeichnungswürdig wäre, kann man sich ja auch nochmal in die Kinodebatte der Woche stürzen. Danach die schönste neue Platte hören.

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Kinodebatte der Woche: Warum der „Joker“ Sexualstraftäter finanziert und ein „Incel-Fuckfest“ sein soll

Wenn einem Blockbuster etwas Besseres passieren kann als eine Debatte, die sich darum dreht, wie böse er ist, dann sind das wohl: ZWEI Debatten, die sich darum drehen, wie böse er ist. Noch bevor Todd Phillips‘ „Joker“ ins Kino kam, stand der Film für seinen Soundtrack in der Kritik: In einer Schlüsselszene läuft „Rock and Roll Part 2“, ein Song von Gary Glitter – der wegen Kindesmissbrauchs in Haft sitzt. Heikel ist das nicht nur, weil der Film die Folgen von Kindesmissbrauch thematisiert, sondern auch, weil der Verurteilte Tantiemen für die Verwendung des Songs kassiert. Was die Frage provoziert, ob man es verantworten kann, einem Sexualstraftäter mit einem alten Hit die Taschen zu füllen.

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Andere finden „Joker“ aus ganz anderen Gründen gefährlich. Denn der Film erzählt, wie Batmans ewiger Nemesis zum Bösewicht wurde – indem er ihn als tragischen Verlierer zeichnet, dem von der Gesellschaft so übel mitgespielt wird. Das könne einsame Wölfe zur Nachahmung des fiesen Joker-Treibens inspirieren. Die Journalistin Veronika Kracher bezeichnete den Film gar als „Incel-Fuckfest”. Tatsächlich ist die Figur des Joker beliebt bei Internet-Rechten und eben „Incels“ – Anhängern einer (männlichen) Subkultur, die unfreiwillig sex- und beziehungslos leben und im Glauben, die dämliche Weiberwelt enthalte ihnen vor, was ihnen zusteht, einen irren Frauenhass entwickelt haben.

Der Joker, so die Kritik, bestärke solche Machisten in ihrem Denken, denn auch er rächt sich an einer kalten, gemeinen Welt, die ihn verachtet – gewissermaßen, weil er nicht anders kann. Im Filmuniversum wirkt sein Morden fast moralisch geboten, zumindest aber: nachvollziehbar. Muss man wirklich Empathie für solche Typen entwickeln?

Es ist dieselbe Frage, die einen auch beschäftigt, wenn ein Sänger wie Faber in seinen Songs zum Lustmolch mit fragwürdigem Frauenbild wird – alles Rollenprosa, wie er immer wieder betont. Zeigen da nun mutige Kunstschaffende einen Teil der Realität, der nicht verschwiegen werden darf – oder glorifiziert man Tätern mit Filmen wie „Joker“, Romanen wie Heinz Strunks Frauenmörder-Psychogramm „Der Goldene Handschuh” oder den Songs von Faber schlichtweg eklige Wichser? Brauchen wir Widerling-Wiedergänger in der Kunst, wenn die Wirklichkeit (noch immer) genug Möglichkeiten bietet, solche Typen aus der Nähe zu betrachten (und sich, wenn man zufällig eine Frau ist, von ihnen angraben oder umbringen zu lassen)?

„Joker“-Regisseur Todd Phillips wird nicht unbedingt sympathischer dadurch, dass er eine angeblich vorherrschende „woke culture“ kritisiert, also eine gesellschaftliche (Über-)Empfindlichkeit gegenüber Rassismus, Sexismus und anderen hässlichen -ismen; ein ödes Lamento, das nie weit entfernt vom rechten Reden über „Denk- und Sprechverbote“ ist. Trotzdem: Einem Film vorzuwerfen, er könne Nachahmer inspirieren, ist in etwa so sinnvoll, wie zu behaupten, Egoshooterspiele seien Schuld an Amokläufen. Kunst muss nicht moralisch sein; über die Frage, welche gesellschaftliche Verantwortung sie hat, kann man ewig diskutieren. In Phillips’ Film wird Gewalt, anders als etwa in vielen Tarantino-Filmen, jedenfalls nicht ästhetisiert, sondern schlicht als brutal und hässlich dargestellt. Dass manche Menschen solche Bilder als Handlungsanweisung verstehen können statt als Plädoyer für weniger soziale Grausamkeit, ist ein Problem, das weder ein Film noch ein Regisseur lösen können.

Album der Woche: Big Thief – „Two Hands“

Einmal mit so viel Leichtigkeit Schönes schaffen wie Big Thief. Nicht nur, dass Sängerin Adrienne Lenker im vergangenen Jahr mit ABYSSKISS ein bezaubernd introvertiertes Soloalbum veröffentlicht hat – vor gerade mal fünf Monaten kam auch die feine Big-Thief-Platte U.F.O.F. heraus. Dem fügen sie nun mit TWO HANDS ein sachte schrofferes Schwesteralbum hinzu, das in manchen Momenten klingt, als hätten sich Veruca Salt in einer verzauberten Hütte ihren Reim auf das Frühwerk von Bright Eyes gemacht.

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Verkannte Kunst: Avril Lavigne – „Let Go“ (2002)

Die frühen Nullerjahre waren eine Nichtzeit. Irgendwie waren die euphorischen Neunziger vorbei, aber so richtig hatte das neue Jahrtausend noch nicht begonnen. Menschen färbten sich Blocksträhnen ins Haar, und unter Nu-Metal-Flagge segelten Bands wie Limp Bizkit in Fahrwasser ungekannter Geschmacklosigkeit. Sicher, Popstars wie Britney Spears und Christina Aguilera waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Aber irgendwer musste sich ja auch um die Kids kümmern, die Pickel und Komplexe, aber keine große Schwestern mit Bikini-Kill-Platten hatten. Denen machte Avril Lavigne, superjunge Pophoffnung aus bibeltreuem Elternhaus in Kanada, mit ihrem Debütalbum LET GO ein unwiderstehliches Identifikationsangebot: In Baggyhosen und mit Krawatte überm Tanktop gab sie die pandaäugige, skatende, anti-bourgeoise beste Freundin für Teenager, die sich wie Außenseiter fühlen – also für alle.

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Geschenkt, dass ihr eingängiger Bubblegum-Punk zwar nach Rebellion und Teenage Angst klang, aber weder ernsthaft gefährlich noch abgründig war; ihre Credibility als Bad Gal reichte immerhin, um ihr auf einem Rolling-Stone-Titel den Ehrentitel „The Britney Slayer“ zu bescheren.

Tatsächlich war Avril Lavigne ein nicht weniger sorgsam ausgedachtes Kunstprodukt als ihre (lip-)glossy Antipodinnen: Zu Beginn ihrer Karriere wollte man sie als „Mischung aus Sheryl Crow und Fiona Apple“ in Stellung bringen. Die Krawatte hat Lavigne längst abgelegt, später Nickelback-Sänger Chad Kroeger geheiratet, den wohl meistverarschten Mann im Rockgeschäft, einige Platten mit egalem Formatpop veröffentlicht, so erst kürzlich – und Menschen zur sich hartnäckig haltenden Verschwörungstheorie inspiriert, sie sei seit Jahren tot und durch eine Doppelgängerin ersetzt worden. Aber für eine kurze Zeit war sie der weltbeste Tomboy für Bravo-LeserInnen. Und die Rettung vor Limp Bizkit.

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Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.