Popkolumne, Folge 77

Der antideutsche Fernsehgarten & Punkrock auf Kassette – Volkmanns neue Popwoche ist da


In unserer Popkolumne präsentiert Linus Volkmann im Wechsel mit Paula Irmschler die High- und Lowlights der Woche. Welches Album, welcher Podcast, welcher 90s-Schrott lohnt sich (nicht). Außerdem klärt sich diesmal endlich die alte Menschheitsfrage: Ist Andrea „Kiwi“ Kiewel eigentlich der Antichrist und der „ZDF-Fernsehgarten“ der Limbus? Sprecht eure Gebete und schaut nicht nach unten: Die neue Popwoche ist da!

LOGBUCH KALENDERWOCHE 31/2020

Corona hat viele von euch ruiniert und in tiefe Krisen geschickt. Sorry dafür! Bei mir verhält sich die Sache anders, der große Umsturzgewinnler = ich. Klar, das beißt sich mit dem sympathischen Loser-Image, das ich über Jahre kultiviert habe, aber was soll man machen? Aktueller Corona-Glücksfall: Der Zoobesuch. Normalerweise ist so ein Trip, um die gefangenen Tiere aufzumuntern, am Wochenende und bei schönem Wetter nicht zu ertragen. Zu viele Menschen und keine Lösung. Doch dank Seuche zeigen sich aktuell die Karten limitiert und alle lästigen Familien waren schon wieder durch, als wir endlich verkatert, aber hochmotiviert unsere Tickets schwenken. In Folge: Stundenlang allein mit den Pinguinen abhängen – so sollte jede Woche beginnen. 

DAS KLEINSTE INTERVIEW DER WOCHE: Die ZDF-Fernsehgarten-Prankster revisited

Letztens bin ich wieder über einen der besten TV-Momente ever gestolpert. Roland Kaiser tritt Juli 2012 im traditionell live übertragenen „ZDF-Fernsehgarten“ auf. Jemand aus dem Publikum hat aber offenbar eins der „Atmo-Mikros“ gekapert – und Kaiser wird plötzlich übertönt von „Deutschland ist scheiße / ihr seid die Beweise!“ – bis die Regie jenes Mikro runterdreht, ist der Slogan schon prominent on air gegangen. Über Umwege habe ich die damaligen Verursacher ausfindig gemacht – und so erfahren wir nun Insidermäßiges vom TV-Prank der Zehner Jahre.

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Keine Namen, keine Strukturen, da es sich allerdings um kein Kapitalverbrechen handelt und alles auch verjährt sein dürfte… könnt ihr ungefähr sagen, wer ihr seid?

Wir sind zwei intellektuelle It-Punks, die damals in Rheinland-Pfalz auf der Suche waren nach der großen Bühne für ihre politischen Ergüsse und Schabernack.

Was war das Motiv und warum gerade der Fernsehgarten?

Ein heißer Tag im Juli, wir waren jung, „der Woi ging ins Gemüt“. Gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Und was sollten wir eigentlich sonst in Mainz machen?

Ist euch wegen dieser Aktion was passiert? Wurdet ihr rausgeschmissen?

Wir haben erstmal einfach ahnungslos weiter gefeiert – eine Freundin kotzte neben die Big Band der Bundeswehr, ein befreundetes Pärchen kaperte das Boot vom Pool… Beim Verlassen des Geländes nahmen wir aber bereits gestiegene Popularität wahr, denn das Sicherheitspersonal riss sich um uns: Fluchtversuche scheiterten, es wurden Personalien aufgenommen. Immerhin keine Anzeige, kein Hausverbot. Dennoch folgte bei uns großes Entsetzen über die dümmlichen und rechten Kommentare zur Aktion bei Facebook – aber auch schier endlose Freude darüber, wie viele Millionen Menschen wir mit der Aktion (bis heute) erreicht haben.

Würdet ihr es wieder tun?

Klar, es war erfolgreicher als alle anderen Demos und Flyer aus unserer Polit-Biographie zusammen genommen. Und wir waren auch danach noch mehrfach verbimmelt mit einer Horde lieber Assis auf dem Lerchenberg unterwegs. Allerdings haben bei den späteren Besuchen die Securities unheimlich genervt, weil sie uns permanent hinterhergeschlichen sind.

Die beiden Akteure heute. Reicht vermutlich noch nicht zum Fahndungsplakat.

CLIP DER WOCHE: Friedemann Weise

Der Songschreiber und Kölner Friedemann Weise veröffentlicht diese Woche DAS WEISE ALBUM (Staatsakt). Den zum Release angefertigten Clip „Die Kunst“ darf man getrost voll pudel finden. Außerdem ist er wie alles, was Weise erschafft: bittersweet, gescheit, charmant und witzig. Was mir Rainald Grebe nicht mehr geben kann, hole ich mir hier.

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EVENT DER WOCHE: „Festivals für Festivals“

Huch, wer  hat denn dieses hässliche T-Shirt geschickt? Ach so, das gehört zur Festival-Retter-Kampagne „Festivals für Festivals“ – und hatte ich mich da nicht irgendwie bereit erklärt, eine Art Botschafter zu sein? Okay, wenn dem so ist, sollte ich in dieser ehrenamtlichen Funktion überhaupt das Shirt gleich hässlich nennen? Vermutlich nicht!

Doch hier geht es ja nicht um schnöde Baumwolle, sondern um die Zukunft der unabhängigen Festival-Landschaft. Die nicht riesigen, dafür aber coolen Open Airs. Zum Beispiel Immergut, Jenseits von Millionen, Orange Blossom Special, Open Flair, Jamel rockt den Förster und noch 150 mehr. All diese Hot Spots haben sich im Corona-Jahr auf einen Termin geeinigt. Vom 21.08. – 23.08. gibt es ein digitales Soli-Wochenende für und mit all diesen Events, die dieses Jahr nicht wirklich stattfinden werden können.

Zu jenem Wochenende gehört für die virtuellen Gäste auch Campen auf dem Balkon oder im Garten – und dazu kriegt man in Streams exklusiven Content der einzelnen Open Airs. Ob ich an jenem Wochenende wirklich im Freien schlafe (habe immerhin weder Garten noch Balkon), ist noch nicht verhandelt, aber wer die Indie-Festivalkultur vorm Corona-Kollaps retten möchte: Hier geht’s lang …

„Festival für Festivals“ feiert im August alle Festivals, die in diesem Jahr nicht stattfinden können

PODCAST DER WOCHE: „Trauma Loveparade“

Zehn Jahre her ist das tödliche Unglück bei der Loveparade in Duisburg. Der siebenteilige Podcast des Dokumentarfilmers Julian Brimmers (u.a. „We Almost Lost Bochum“) und der Journalistin Viola Funk („Die dunkle Seite des deutschen Rap“) hat sich jenem seinerzeit live übertragenen Schrecken im Tunnel noch mal ausführlich und persönlich angenommen. Man hört die Macher*innen selbst mehr als einmal Schlucken bei der Spurensuche, doch ihre Empathie ist es letztlich auch, die diese krasse Podcast-Doku überhaupt aushaltbar macht.

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Exklusiv-Interview mit Dr. Motte: Sauerland und Schaller gehören ins Gefängnis

MUSIKKASSETTE DER WOCHE: „Punkrock Diary“

Mir persönlich kommt es übertrieben praktisch vor, quasi ein Service-Format: Das Fanzine als Hörspiel auf Kassette. Kann ich perfekt im Auto hören, wenn ich mehrmals im Monat die A3 rauf- und runterfahre. Sicherlich dürfte es einen Großteil an Menschen geben, die weder mit einem Wagen noch mit Überlandfahrten was am Hut haben – oder wenn doch dann kein Autoradio mit Tapedeck besitzen. Nun, was soll ich sagen außer…

Ihr tut mir nur noch leid!

Grundsätzlich.

Aber gerade auch vor dem Hintergrund dieses fantastischen MC-Produktes aus dem DIY-Garten-Eden.

Maks Rilrecowski (Buchautor, Indie-Labelbetreiber und Teil der Plastic-Bomb-Crew) hat sein Egozine „Punkrock Diary“ in der achten Folge in das Retro-Format Kassette gepackt (Download-Code inklusive). Er erzählt darauf von Konzerten, teilt seinen Gedanken, nimmt einen mit auf Reisen durch die Ruhrpott-Subkultur. Ästhetisch ist das sehr detailreich gelöst: Maks liest nicht einfach ein Heft ein, sondern nutzt viele Gast-Stimmen, spielt an passenden Stellen kurz Musik ein, zum Beispiel „Du und deine Scheiß-FDP“ von Supernichts. So ist „Punkrock Diary“ am Ende eine bunte Ton-Collage, die was vom Leben des Protagonisten und Punk 2020 erzählt. Nichts, was nicht auch ein Podcast könnte, aber in diesem Format irgendwie weit welthaltiger. Mehr Plastik, mehr Inhalt.

MEME DER WOCHE

GUILTY OR PLEASURE (90S-EDITION, PT.11):

Die Sache ist ganz einfach: Ein verhaltensauffälliger Act aus dem Trash-Kanon der 90er wird noch mal abgecheckt. Geil or fail? Urteilt selbst!

FOLGE 11:
Technohead

HERKUNFT: London
DISKOGRAPHIE: 1 Studio-Album HEADSEX
ERFOLGE: Am besten schnitt der Song „I Want To Be A Hippy“ in Deutschland ab. 19 Wochen in den Single-Charts und eine goldene Schallplatte stehen zu Buche.
TRIVIA: Das britische Produzententeam Greater Than One trat mit etlichen Musikprojekten in Erscheinung, Technohead war dabei sicherlich das bekannteste. Lee Newman allerdings hatte wenig von dem Ruhm. Sie verstarb keine vier Wochen nach dem Release von „I Want To Be A Hippy“ an Krebs.

PRO
Hitler hat Autobahnen gebaut, irgendetwas Positives findet man ja immer. Doch auch dieses Prinzip muss einmal seine Grenze erleben. Selbst Eva Herrmann könnte diesen Act hier nicht mehr beschönigen.

CONTRA
Drei Gabba-Glatzen jagen einen Hippie aus dem Park. Neben aller soundästhetischen Kanalfahrt auch visuell so ungut wie kaum etwas – selbst aus dieser deformierten Phase der Clipkultur noch ein super doofes Lowlight.

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Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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