Kritik

Dünne Höhenluft, noch dünnere Handlung: Die Serie „Into The Night“ auf Netflix


Fasten your seatbelts: In „Into The Night“, der ersten Netflix-Serie aus Belgien, fliegt eine Passagiermaschine durch die Dunkelheit. Einziges Ziel: dem Tod durch Sonneneinstrahlung zu entgehen. Das absurde Endzeitszenario wird leider holprig erzählt und verliert sturzflugartig an Spannung. Auch eine gute Besetzung rettet das Sci-Fi-Thrillerdrama nicht vor der Bruchlandung.

Endzeit-Szenarien kommen nicht selten mit einer besonders abwegigen Grundprämisse daher, auf die man sich erstmal einlassen muss: So ist das auch bei „Into The Night“, der neuen Netflix-Serie und der ersten aus Belgien. Dort geht es um eine akute Bedrohung durch tödliche Sonnenstrahlen, die nach und nach die komplette Weltbevölkerung ausmerzt. Aber der Reihe nach.

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Die Handlung von „Into The Night“ beginnt auf dem Flughafen Brüssel. Ein Haufen Passagiere versammelt sich beim Check-In zum Flug nach Moskau. Sie haben neben ihrem eigentlichen Gepäck auch einiges an emotionalem Gepäck dabei, worüber man im Laufe der Serie immer mal wieder ein wenig, aber bei Weitem nicht genug erfährt. Beispielsweise über Sylvie (Pauline Étienne), deren Freund kurz zuvor verstorben ist und dessen Asche sie nun in einer Urne mit in den Flieger nimmt. Richtig in Fahrt kommt die Handlung, sobald Terenzio Gallo (Stefano Cassetti) die Szene betritt. Mit einer Waffe verschafft sich der Nato-Offizier Zugang zum Flieger nach Moskau und bringt die noch nicht vollends anwesende Crew dazu, nicht nur verfrüht, sondern auch nach Westen statt nach Osten loszufliegen. Alles muss schnell geschehen, keine Zeit darf verloren gehen.

Go West

Richtung Westen bedeutet in diesem hanebüchenen Endzeit-Plot auch: Richtung Dunkelheit. Die Verantwortung für den Flug in die titelgebende Nacht haben der Pilot Mathieu (Laurent Capelluto) sowie Sylvie, die, wie sich herausstellt, Helikopter fliegen kann und deswegen hier jetzt die Co-Pilotin gibt. Gallo hat beide darüber informiert, dass eine akute Bedrohung von Sonneneinstrahlung ausgehe und Menschen dadurch sterben – und wenn man nicht Richtung Westen fliege, würden auch alle anwesenden Passagiere sterben. Dort, wo die Sonne zum Zeitpunkt des Fluges schon aufgegangen sei, nämlich in Asien und Afrika, seien jetzt schon alle tot.

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Das glaubt natürlich nicht jeder der Anwesenden. Die meisten befürchten eine Art Geiselnahme, kam Gallo doch mit einem Gewehr in den Flieger und hat auch rumgeballert. Blöderweise ging bei dem gefeuerten Schuss gleich mal die Elektronik flöten, weswegen man nicht funken kann, noch erscheint der Flieger auf dem Radar. Hinzu kommt, dass das Internet an Bord im Eimer ist, weswegen keine Infos über das Geschehen rund um den Globus reinkommen. Auch eine anwesende Influencerin kann nicht live gehen – es herrscht wirklich pure Weltuntergangsstimmung.

Während des Nachtflugs entfaltet sich schnell ein Kammerspiel rund um Machtgefechte, Wahrheitsfindung und entgleitender Gruppen-Dynamik: Die einen glauben die Story mit der Sonne, die anderen nicht. Die einen folgen Sylvie und dem Piloten, die anderen dem NATO-Offizier, wiederum andere sind sich selbst am nächsten. Die einen wollen unbedingt nach Moskau, die anderen sagen, dass man dann ja sterben würde, weil der NATO-Offizier das mit der Killer-Sonne gesagt hat. Auflösungserscheinungen im Gruppengefüge scheinen bei dieser Ausgangslage unausweichlich.

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In seiner Grundkonstellation erinnert „Into The Night“ einerseits an die US-Survivalserie „Lost“, vor allem aber an den Netflix-Hit „Haus des Geldes“: Auch hier geht es nicht nur actionreich, sondern auch kammerspielartig zu. Ähnlich wie bei der spanischen Produktion entfalten sich bei „Into The Night“ durch den wenigen Schlaf, den alle Beteiligten auf der erschöpfenden Flugreise durch die Dunkelheit bekommen, vor allem aber durch das wenige Zutrauen, das in die ständig wechselnde Informationslage gesetzt wird, enorme Konfliktpotentiale. Auch spielen beide in einem Mikrokosmos: Bei „Haus des Geldes“ ist es die spanischen Banknotendruckerei, bei „Into The Night“ das Flugzeuginnere.

Doch anders als beim deutlich gelungeneren spanischen Netflix-Hit geht die Rechnung im belgischen Pendant nicht wirklich auf. Die Konflikte wirken nicht immer logisch und sehr konstruiert, die Streitigkeiten über die Autorität vor Ort wirken oft nicht greifbar. Die Serie von Showrunner Jason George, die vom Roman „The Old Axolotl“ des polnischen Science-Fiction-Autors Jacek Dukaj inspiriert ist, versagt leider in den meisten Belangen.

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Obwohl in der ersten Folge sogar mit einem tollen Tempo gestartet wird und der Spannungsaufbau in dieser ersten Episode gut funktioniert, verliert „Into The Night“ unfassbar schnell an Fahrt. Hauptproblem ist hierbei vor allem die schwache Figurenzeichnung: Die Zuschauer*innen erhalten Infos über die Passagiere durch kurze Einspieler am Anfang jeder Folge (diese sind übrigens nach den wichtigsten Figuren benannt). Doch die Infos sind spärlich gesät, beschränken sich nur auf kurze Szenen aus den Leben der Figuren. Hinzu kommt, dass die Infos oft unwichtig sind und man sie die jeweiligen Figuren an Bord der Passagiermaschine hätte sagen lassen können – teilweise sogar in einem knappen Nebensatz.

Die Folgen dieser fehlenden Persönlichkeiten an Bord sind unverzeihlich: Man fühlt kaum mit, entwickelt wenig bis keine Empathie für irgendeine Figur und deshalb Gleichgültigkeit. Und das ist bei einer Endzeit-Serie, in der man als Zuschauer*in dabei mitfiebern sollte, dass die geliebten Figuren überleben, leider mehr als fatal.

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Statt tiefer in die Figuren einzutauchen hält sich die Serie stattdessen mit ständigen kleineren Problemchen und mit unnötigen Nebenhandlungen auf, die man selbst in der Kürze der sechsteiligen Serie schnell wieder vergessen hat. Warum war das mit diesen drei Soldaten aus Schottland jetzt eigentlich nochmal spannend? Ach egal, wie viel Zeit haben wir doch gleich bis zum Sonnenaufgang?

Die Luft wird dünn

Das Drehbuch schafft es weder, die Spannung hochzuhalten, noch werden die gezeigten Konflikte logisch aufgebaut. Erschwerend hinzu kommt, dass die Dialoge mehr als hölzern sind – da kann auch die an sich tolle Darstellerriege nur wenig retten: Die Serie ist nämlich ziemlich gut besetzt, unter anderem mit Mehmet Kurtuluş, den man vor allem aus frühen Fatih-Akin-Filmen wie „Kurz und schmerzlos“ und „Im Juli“ kennt. In „Into The Night“ mimt er einen türkischen Kriminellen namens Ayaz, der an Bord eine tragende Rolle einnimmt. Auch dabei sind bekannte belgische Darsteller wie Pauline Etienne (sie spielte die weibliche Hauptrolle im ausgezeichneten Film „Eden“ von Mia Hansen-Løve) als Sylvie und Jan Bijvoet („The Broken Circle“) als Rik, ein ausländerfeindlicher und nörgelnder Passagier, der eher Zwiespalt als Zusammenhalt sät.

Auch bei der Musik hat die Serie gutes Personal aufzuweisen: Für den Soundtrack war der britische Drum-and-Bass-Musiker Photek verantwortlich, der treibende und vor allem atmosphärische elektronische Klänge liefert, die mitunter mit starken 80er-Jahre-Anleihen auftrumpfen.

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Doch die Kritik überwiegt: „Into The Night“ wäre gerne eine kammerspielartige Thrillerserie mit einem dystopischen Sci-Fi-Szenario geworden, schafft es aber nicht, auf irgendeiner dieser Ebenen auch nur annähernd zu funktionieren. Weder sind die Dialoge gut, noch ist es durchweg spannend, noch ist der Endzeitplot nachvollziehbar. So schnell die Figuren vor den Gefahren durch die Sonne fliehen, so überhastet schreitet die Story voran – und vergisst dabei das grundlegende Handwerk des Spannungsaufbaus. Trotz toller Darsteller und ansprechender Musik hebt „Into The Night“ nie so wirklich ab. Dafür fehlt es leider an der Essenz.

„Into The Night“, Staffel 1, sechs Folgen á 37 Minuten, seit 1. Mai 2020 auf Netflix im Stream verfügbar