„Reflektor“-Kolumne

Jan Müllers „Reflektor“-Kolumne, Folge 5: Live aus dem Schlachthof


Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die fünfte Folge, in der er sich auf die Spuren des berühmt-berüchtigten SchleimKeim-Sängers Otze begibt.

Nicht jeder Gäste-Wunsch bei meinem Podcast „Reflektor“ ist erfüllbar. Warum ich gerne mit dem DDR-Punkrockstar Otze gesprochen hätte, dies aber nicht möglich ist, erfahrt ihr in diesem kleinen Reisebericht.

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Mai 2008: Wir sind einfach losgefahren, Rasmus, Alexander, Thomas und ich. Drei von uns sind fasziniert von SchleimKeim, der berühmtesten Punkband der DDR. Thomas hingegen haben wir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen glaubhaft machen können, dass es sich lediglich um eine zweitägige Spritztour handeln würde. Ein schlechtes Gewissen haben wir nicht. Seine Begeisterung wird sich auf der Reise entwickeln, denken wir. Auch wenn er sich eher für Steely Dan erwärmt als für diesen robusten Ostpunk, unseren Forschungsgegenstand.

Wichtig ist: Keine Autobahn!

Unser Ziel: Stotternheim. Der Ort, in dem SchleimKeim im Jahr 1979 gegründet wurde und wo dann auch schließlich alles sein tragisches Ende nahm. Otze, der Schlagzeuger, Sänger und Gitarrist der Band, probte hier gemeinsam mit seinem Bruder Klaus und Dippel in einem Raum des väterlichen Bauernhofes. „Was soll denn das und wisst ihr denn überhaupt genau wo das ist?“, fragt Thomas vom Rücksitz ein wenig näselnd. „Das werden wir mit deiner Hilfe schon raus finden.“

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Wichtig ist: Keine Autobahn! Auf Autobahnen lässt sich die Umgebung nicht wahrnehmen. Außerdem ist der Motor bei Autobahntempo zu laut. So ließe sich die Musik nicht mehr störungsfrei analysieren. Wir haben CDs mit allen Hits an Bord: „Geldschein“, „Norm“, „Karnickel“, „Ata, Fit, Spee“ etc. pp. „Das ist ja furchtbare Musik“, beschwert Thomas sich. Im Grunde hat er recht. Die Kompositionen sind einfach, das war Otze wichtig, denn er wollte seine Songs auch besoffen spielen können, die Aufnahmen sind rau. Die Texte sind kurz. Otze trägt sie wie eine verlotterte Hochgeschwindigkeits-Abwandlung von Hans Albers vor. Es scheppert brutal aus den Auto-Boxen.

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Vor dem Mauerfall spielten SchleimKeim auf selbstgebauten Gitarren und Verstärkern. Die Landschaft fließt an uns vorbei. Ich entdeckte SchleimKeim Mitte der 80er-Jahre. Aus verworrenen Gründen erschien seinerzeit auf dem Westberliner Label Aggressive Rockproduktionen eine Split-LP mit der Avantgarde-Band Zwitschermaschine und den mehr schlecht als recht unter dem Pseudonym Sau-Kerle getarnten SchleimKeim. Als Teenager begeisterten mich die rohen Aufnahmen von der anderen Seite der Mauer. Cornelia Schleime von der Band Zwitschermaschine äußerte sich nach der Wende fasziniert und treffend über Otze und SchleimKeim: „Der hat Schlagzeug gespielt, als wenn er ein Schwein schlachten will. Das waren ja auch keine Künstler, das waren Schlachthofarbeiter.“

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Otzes Musik beweist, dass Pop keine Kompromisse machen muss

Otze wanderte für diese Aufnahmen in den Knast. Vermutlich war es ihm klar und er hat es in Kauf genommen. So wie er wohl alles gegeben hätte, um das zum Ausdruck zu bringen, was in ihm war. Es gibt wohl keinen besseren Beweis als seine Musik, um deutlich zu machen, dass Kunst nicht immer mit Verfeinerung zu tun hat. Und dass Pop keine Kompromisse machen muss. Auch wenn der Mauerfall zunächst Glück verhieß – die Band durfte nun ganz legal auftreten –, so waren die plötzlich grenzenlos verfügbaren Drogen wohl Otzes Verhängnis. Er verlor die Kontrolle. 1999 geriet er im Rausch mit seinem Vater in Streit und erschlug ihn mit einer Axt.

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Die Legende besagt, dass sein Vater zuvor diverse Tapes mit Otzes Musik in den Müll geschmissen hatte. Otze starb am 23. April 2005 in einer forensischen Psychiatrie an Herzversagen. Er war als gemeingefährlich eingestuft worden, Medikamente wurden ihm zwangsweise verabreicht. Es gelang uns auf unserer Reise nicht, den Hof ausfindig zu machen. Aber darum ging es nicht. Es ging um eine geistige und räumliche Annäherung. Am nächsten Morgen, im Frühstücksraum in der schäbigen Gothaer Pension, fällt unser Blick auf einen Krug mit Republikaner-Emblem im Regal. Gut, dass wir diese Reise gemacht haben. Auch wenn wir auf dem Rückweg die Steely-Dan-CD von Thomas statt SchleimKeim gehört haben.

Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor

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Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 07/2021.

Michael Petersohn Archiv Höhnie Records
Michael Petersohn Archiv Höhnie Records
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