Kolumne

Linus Volkmann: 9 aufwühlende Musikpodcast-Folgen, die ihr gehört haben solltet

Herbst heißt: Sich zusammenrollen vor der Heizung und Podcasts hören. Genau dafür hat der laubfarbene Linus Volkmann in seiner Kolumne etwas zusammengestellt.

Jetzt ist definitiv Herbst, die Ernte eingebracht, die Bäume kahl wie Oma Hans, das wenige Tageslicht verlischt bereits nachmittags. Zeit, sich selbstmitleidig vor der Heizung zusammenzurollen und auf die nächste Laubbläser-Attacke, den nächsten Atemwegsinfekt zu warten. Das soll also diese saisonale Gemütlich- und Behaglichkeit darstellen, wie sie in Magazinen wie Emotion oder Brigitte immer wieder postuliert wird? Bitte nicht! Herbstfans sind mir zutiefst suspekt. Die einzige Möglichkeit, wie man dieser Jahreszeit realistisch begegnen kann, ist durch konstruktives Zeitverbrennen – bis halt endlich Weihnachten und dann auch irgendwann wieder der Frühling kommt.

Diese Kolumne soll euch auf dieser Challenge begleiten oder zumindest etwas an die Hand geben, mit dem ihr euch gut durch dunkle Tage panzern könnt. Die Empfehlung liegt auf der Hand (beziehungsweise steht schon im Titel): Es geht um Podcasts.

Aber vielleicht geht es euch ja wie mir, ihr hört und kennt viele davon, allerdings, wenn dann das Smartphone in der Hand und der Abend zu Füßen liegt, wird’s schnell ratlos: Was wollte man jetzt mal hören? Auf den Streaming-Anbietern hat man einen Friedhof nie fertig gehörter Episoden hinterlassen, im Kopf stapeln sich Random-Tipps, die man irgendwann mal aufgeschnappt hat und der aktuelle Go-To-Podcast hat gerade nichts Neues zu bieten. First world problems, okay – aber auch das sind problems.

Hier nun neun Podcast-Vorschläge – und zwar nicht einfach Verweise auf gute Creator:innen sondern ganz konkret einzelne Folgen, die ich für euch vorgehört habe und aus den unterschiedlichsten Gründen für empfehlenswert halte. Ich beschränke mich dabei auf Interview-Podcasts, die mit Musik zu tun haben, außerdem versuche ich keine Spotify-Links zu nutzen – wer über diesen Anbieter hören möchte, findet aber sicher auch schnell hin. Bereit? Dann geht’s jetzt los.

9 großartige Podcast-Episoden, die ich euch persönlich ans Herz lege

Und dann kam Punk #109 – mit Katharina Franck

Früher in der Kinderdisco lief der Song „Blueprint“ von den Rainbirds. Selbst dort verleitete er Halbwüchsige bereits zum Pogo. Das Stück war emo, bevor es die gleichnamige Musikrichtung überhaupt gab. Viel mehr als dieses Stück dürfte den wenigsten von der Berliner Band Rainbirds im Gedächtnis geblieben sein. Man könnte noch wissen, dass Rod Gonzales hier mal Gitarre spielte und dass mit dem heute als Filmmusiker tätigen Beckmann eine weitere Underground-Szenegröße der Achtziger/Neunziger im Line-Up stand. Vornehmlich stand für die Rainbirds aber natürlich Sängerin Katharina Franck. Zumindest bei mir endete hier alle knowledge. Ich wusste nicht mal, dass Katharina Franck in Portugal aufgewachsen war und prägende Jugendjahre in Brasilien verbrachte. Der Podcast „Und dann kam Punk“ von den zwei nachdenklichen Freunden Christopher und Jobst aus Berlin ist bekannt dafür, sich viel Zeit zu nehmen und das geht hier wirklich auf. Katharina Franck erzählt sehr offen über das Aufwachsen in anderen Ländern, über den Sexismus der Musikbranche und über die Spannungen innerhalb ihrer prominenten Band. Eine interessante Biographie rollt sich hier auf und lebt von der Bescheidenheit und dem Charme der Protagonistin. Die Hosts flankieren die Story sehr einfühlsam. Das hier ist eins meiner schönsten Podcast-Erlebnisse überhaupt.

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Rebecca räumt auf #11 – Knarf Rellöm

Ihr wisst sicher noch, wie sich letztes Jahr um die Deutungshoheit zu dem Phänomen Hamburger Schule gezankt wurde. Wer bekam in der einstündigen Doku zu viel, wer zu wenig, wer gar keine Sendezeit? Ich erinnere ein Fegefeuer der Eitelkeiten, das dereinst glänzend unterhielt – und bei einigen Acts so tief blicken ließ, als wäre man Zeuge einer besonders fremdscham-geboosteten Folge „Dschungelcamp“. Schade, dass der Rummel um die Doku vorbei ist, muss ich sagen. Denn das Thema Hamburger Schule ist doch noch längst nicht auserzählt. Daher hier ein Tipp, für alle, denen der deep dive nicht tief genug sein kann. Die Autorin Rebecca Spilker hat sich Knarf Rellöm eingeladen und entlockt ihm im Plauderton viele Ab- und Umwege rund um die Hamburger Bandszene um die Jahrtausendwende, die man so noch nicht kannte. Aber auch darüber hinaus bereitet es Vergnügen, mal ganz ausführlich über Knarfs Werdegang zu hören, an seinem Witz und Wertesystem zu partizipieren und wie es ihm (als jungem Vater!) heute so geht mit der Musik und dem ganzen Rest. Ganz nah dran, ganz tolle Chemie zwischen Host und Gast.

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Mrs. Pepsteins Welt #52 – Brezel Göring

Mrs. Pepstein ist eine bekannte feministische Radiomoderatorin aus Leipzig. Ihre Sendung „Mrs. Pepsteins Welt“ pflegt sie seit (eigentlich weit) über 100 Folgen, zuletzt erschien die Jubiläumsnummer 100 mit der Musikerin (unter anderem Baumarkt) Jens Ausderwäsche. Auch eine Empfehlung, aber ich möchte hier noch mal auf ihre Begegnung mit Brezel Göring verweisen. Knapp ein halbes Jahr nach dem Tod von dessen Partnerin Françoise Cactus besucht Mrs. Pepstein ihn in seinem Proberaum im geschichtsträchtigen Berliner Rauch-Haus.

Brezel spricht reflektiert und gleichermaßen voller Emotionen über die Verstorbene, ihre gemeinsame Band Stereo Total, ihr gemeinsames Leben, das Leben allein. Eine berührende Begegnung, die etwas Feierliches besitzt und sich trotzdem casual und zugänglich gibt. Der Opening-Jingle von Mrs. Pepsteins Radioshow stammt übrigens von Stereo Total, die persönliche Verflechtung von Mrs. Pepstein (a.k.a. Katja Röckel) und Françoise addieren zusätzlich noch auf diesen intimen Austausch.

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Zum Dorfkrug #1 – Thees Uhlmann

To be honest, man könnte Thees vermutlich in die scheintoteteste Sendung der dritten Programme stellen und es käme immer noch Entertainment raus. Was die Anekdotenmaschine aber rauszuhauen imstande ist, wird deutlich, wenn die Rahmenbedingungen perfekt sind. Das ist hier der Fall. „Zum Dorfkrug“ war der Podcast von Zugezogen Maskulin, also von Testo und Grim104. Er wurde irgendwann eingestellt, denn Podcasts zu refinanzieren ist, nachdem der Hype der Corona-Jahre verklungen war, kaum noch möglich, wenn man nicht wirklich brutal fame ist. Zum Glück finden sich die Relikte von „Zum Dorfkrug“ noch online – und eben auch den Talk, den Thees Uhlmann mit den beiden Hosts über das Aufwachsen in der Provinz führt. Thees nimmt uns mit nach Hemmoor und produziert richtigen Dorfpunks-Porn. Wer sich hier nicht aufgehoben fühlt, ist vermutlich in Paris, Berlin-Mitte oder London aufgewachsen. No front, liebe Urbanistas, aber ich komme aus dem Örtchen Maintal und habe diesen Talk hier (nicht nur deshalb) sehr genossen.

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Nachtschatten #32 – über Crystal Meth

Sunshine Live, das ist doch dieses Online-Radio mit Schwerpunkt elektronischer Musik? Zuletzt ist es mir häufiger begegnet, allerdings empfehle ich hier nun etwas aus ihrer (mittlerweile eingestellten) Podcast-Reihe „Nachtschatten“. Dort geht es um den Zusammenhang von Feiern und Rausch, von Musik und Drogen. Das Ganze wird kompetent aufbereitet mit diversen Expert:innen und ist zu null Prozent judgemental. Niemand wird verurteilt – das sagt sich leicht, hier ist es aber definitiv der Fall. Ich empfehle die Folge über Crystal Meth, habe aber selbst noch längst nicht alles gehört – und bin gespannt, was für krasse und interessante Erkenntnisse hier noch für mich im Archiv liegen.

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Bierschinken #82 – ClickClickDecker

Ein Comeback aus diesem Herbst, dem noch mehr Aufmerksamkeit zukommen sollte, ist das von ClickClickDecker. Insofern habe ich mich gefreut, dass der Journalist (Bierschinken) und Musiker (Ok Nein) Valentin (Kampfname kraVal) sich mit Kevin Hamann zu einem zweistündigen Interview zusammengesetzt hat. Ich habe zwar ClickClickDecker und sein Projekt Bratze Ende der Nuller-, Anfang der Zehnerjahre viel gepumpt, wie wir jungen Leute sagen, aber mein Wissen über die Musik hinaus ist sehr überschaubar. Valentins Talk schließt viele Lücken und schafft neue Anknüpfungspunkte, zudem weiß ich die freundlich zugewandte Art des Hosts sehr zu schätzen. Man fühlt sich gut aufgehoben, die Zeit verfliegt. Hört diesen Podcast, der zu dem halbirren Online-Fanzine-Phänomen Bierschinken gehört – und checkt doch mal, was Kevin heute so macht.

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JOKES – Till Reiners vs. Ilona Hartmann

Hier dehne ich die Grundannahme der Kolumne ein wenig. Denn weder Till Reiners noch sein Gast Ilona Hartmann sind irgendwie als Pop-Act bekannt. Dennoch verbindet beide eine Liebe zur Musik. Bei Till Reiners kann ich das höchstselbst bezeugen, denn im aktuellen „Blind Date des Jahres“ für die Printversion des Musikexpress‘ habe ich mit ihm über zentrale (und nicht so zentrale) Stücke von 2025 gesprochen und er kannte sich aus wie ein Schießhund – wenn ihr mir dieses schiefe Bild verzeiht, aber ich muss mich stilistisch von all den steindoofen KI-Texten absetzen, in denen das einzig Unvorhergesehene immer bloß die vielen sachlichen Fehler sind. Wo war ich? Ach ja, Till Reiners seines Zeichens Late-Night-Moderator und Comedian ist Popnerd und die Autorin Ilona Hartmann sowieso. Vielleicht habt ihr ein Buch von ihr mal angefasst, oder über ihren zauberhaften „Social Media Grind“ geschmunzelt oder einst ihr Video-Interview mit Tocotronic zu dem Album NIE WIEDER KRIEG bei den Kolleg:innen von „Diffus“ gesehen. [Einschub: Online-Chefredakteurin Hella machte mich darauf aufmerksam, dass Ilona sehr wohl ein Bandprojekt unterhalte: Njelk – gemeinsam mit Luis Ake und Julian Knoth. Und so muss ich es erfahren!?] Anyway, in diesem Podcast zum Thema Humor treffen jedenfalls zwei sehr steile Vögel aufeinander. Merkt man sofort und man wird reingezogen in einen extrem kurzweiligen Schlagabtausch für Schnelldenker:innen.

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Sinus #27 – Torsun Burkhardt (Egotronic)

Kurz vor Silvester 2023 verstarb der Musiker Torsun Burkhardt an Krebs, seine Band Egotronic hat viel bewegt in ihrer über zwanzigjährigen Geschichte, das bis heute einflussreiche Nullerjahre-Phänomen von hedonistischem Ballerpunk mit den Mitteln von Techno lässt sich klar auf sein Wirken zurückführen – dennoch ist Torsun immer auch seine eigene Nische geblieben. Das lag sicher an einer streitbaren politischen Haltung und dem Unwillen, sich auf Kompromisse hinsichtlich von Marktfähigkeit einlassen zu wollen. Die Diagnose mit einer letalen Erkrankung überlebte er nicht mal ein Jahr, aber in den Monaten vor seinem Tod hat er mit einigen sehr persönlichen, ja, sehr lebendigen Talks noch Podcastgeschichte geschrieben. Ehrlich, authentisch, voller Neugier – anders konnte er eh nie agieren. Das floss in eine Handvoll Podcasts, hier sei verwiesen auf den mit Alex Barbian für „Sinus“. Mit wie viel Lebenslust Torsun aus seinem Krankenbett da über Punk, die Welt und das Sterben erzählt, ist einmalig.

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Reflektor – Wolf Biermann

Ich erinnere mich noch an den allerersten Podcast von Jan Müllers „Reflektor“. Ich war auf Urlaub in einem kleinen Häuschen im Wald in Südschweden. Der Bassist von Tocotronic sprach mit Marian Gold von Alphaville und ich war entsetzt. Nicht weil dieser neue Musikpodcast nicht gut war – im Gegenteil, weil ich dachte, „scheiße, das ist ja deutlich interessanter als die meisten Popjournotexte, die ich die letzten Jahre gelesen habe.“ Was erlaube, Jan Müller! Doch sein Podcast ist zu gut, um ihn zu hassen, daher habe ich ihn umarmt und könnte euch hier dutzende Lieblingsfolgen aufgekratzt nacherzählen. Ich beschränke mich aber auf eine aktuellere: Jan Müller trifft auf den 88-jährigen Wolf Biermann. Das Gespräch ist in sofern besonders, als dass es unseren beliebten Host wohl mehr forderte als alle anderen. Der konfrontationslustige Wolf Biermann ist gleichsam eine honorige Gestalt, ein wichtiger Zeitzeuge, eine Anekdotensammlung wie aber auch ein altersstarrsinniger Querulant. An einer Stelle, als es um den Stasi-Spitzel Sascha Anderson geht, versteht Biermann seinen Gastgeber möglicherweise falsch und ist minutenlang kaum mehr einzufangen in seinem Gepöbel. Mit Indie-Engelszungen redet Jan auf ihn ein und versucht, den Talk wieder in eine Spur zu bringen. Als Popjourno, der selbst viele Interviews geführt hat, halte ich bei diesem Part den Atem an, fühle mit. Ob Jan Müller seinen exzentrischen Gast am Ende wieder beruhigen kann? Hört es selbst! Auch jenseits des Konflikts eine spannende Folge, die viel über deutsche Geschichte und die Musikszene drumrum erzählen kann.

Hier die Podcastfolge hören.

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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Linus Volkmann schreibt freiberuflich unter anderem für MUSIKEXPRESS. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.