ME Liste

ME hat gewählt: Das sind unsere Alben des Jahres 2023


50 Alben, die uns begeistert haben – mit Platten von Boygenius, Mitski und Lana Del Rey.

30. Bob Dylan – SHADOW KINGDOM

 

Auf dem während der Pandemie kurz als Videostream in verqualmter Bar-Atmosphäre abrufbaren und nachträglich als Album erschienenen ­SHADOW KINGDOM krempelt der Songwriter-König Stücke aus seiner ersten Karrierehälfte um. Klassiker wie „It’s All Over Now, Baby Blue“, „I’ll Be Your Baby Tonight“ und „Forever Young“ verwandeln sich, samt Kontrabass und Akkordeon, in swingenden Folk, Rockabilly und magische Zeitlupentanzmusik. Dylan selbst wird zum Crooner, die Stimme klar und nuanciert. Klingt eigenartig, ist grandios. – David Numberger

29. Marlene Ribeiro – TOQUEI NO SOL

Marlene Ribeiro ist Mitglied der Kraut-Psychedelia-Band Gnod aus Manchester. Auf ihrem Solodebüt führt die portugiesische Musikerin auf wunderbare Weise experimentelle Musik und Songwriting zusammen. Instrumente und Nicht-Instrumente wie Haushaltsgegenstände erzeugen eine Mischung aus Psychedelia, Folk, Dream Pop, Musique concrète und verschleppten Latin-Rhythmen. Musik, die keine Grenzen kennt, keine stilistischen und keine, die definieren würden, was ein Musikinstrument überhaupt ist. – Albert Koch

28. Gabriels – ANGELS & QUEENS

Neun Monate nach Release von Part I vollendeten die sechs Stücke von Part II endlich das Debütalbum des US-britischen Soul-Trios. Kurz davor war Ausnahmesänger Jacob Lusk neben dem prominentesten Werbetrommelrührer seiner Band, Elton John, auf der Bühne des Glastonbury-Festivals gestanden. Danach hätte die Platte eigentlich wie eine Bombe einschlagen müssen, tat sie dann aber doch nicht so ganz. Geben wir der Welt also noch etwas Zeit, diesem bombastischen, hakenschlagenden Sound zwischen Gospel, HipHop, Disco und Philly-Soul zu verfallen. Es ist ja eh unausweichlich. – Stephan Rehm Rozanes

27. The National – FIRST TWO PAGES OF FRANKENSTEIN

Umso länger die Pandemie unsere Welt gefror, umso wuchtiger schienen die Schranken in Matt Berningers Kopf. Unter der Last seiner Depression hinterfragte der Sänger alles – auch den Fortbestand seiner Band. Die Zerrissenheit verhandelt er auf der besten The-National-Platte seit TROUBLE WILL FIND ME. Noch immer ist sein Bariton ein Geschenk der Götter – völlig gleich ob er schmachtet, kratzt oder bricht. Noch immer bäumen sich die zum Vergehen schönen Arrangements der Gebrüder Dessner so lange auf, bis es den Hörer zerreißt. Ruf nach mir, wann und wo auch immer, heißt es sinngemäß ganz am Ende dieser im Schmerz geborenen Platte: Ich werde kommen und dich holen. – Martin Schüler

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26. Iggy Pop – EVERY LOSER

Wähnte man POST POP DEPRESSION, die coole 2016er Kooperation mit Josh Homme, damals als Iggys Schwanengesang, darf man sich 2023 ob des eigenen Irrtums freuen: Das von Wunderkind Andrew Watt produzierte und unter anderem mit Duff McKagan und Chad Smith eingespielte 19. Studio­werk des einstigen Stooges-Stars ist ein reifes Potpourri aus Pops bisherigem Soloschaffen und Rocker-Rollen zwischen Proto-Punk-Sänger und sonorem Märchenonkel. EVERY LOSER beweist, dass der notorische Nackedei mit 76 Jahren immer noch mehr musikalische Ideen im Schrank hat als Oberhemden. – Frank Thiessies

25. Fever Ray – RADICAL ROMANTICS

Auf dem ersten Album seit sechs Jahren verhandelt Karen Dreijer die Themen Liebe und Romantik in ihren verschiedenen Facetten. Es markiert zudem die erste Zusammenarbeit mit Dreijers Bruder und The-Knife-Partner Olof seit acht Jahren. Das Ergebnis klingt verschroben, mystisch, bedrohlich, mitunter auch sinnlich und betörend. Auf dem beachtlichen „Even Out“ legt sich die Künstler:in mit einem Schulbully an: „And we know where you live / One day we might come after you / Taking back what’s ours“, singt Dreijer über einer bedrohlichen Klangteppich, mitproduziert von Trent Reznor. Auch so kann Liebe klingen. – Louisa Zimmer

24. Depeche Mode – MEMENTO MORI

Bei aller großen Liebe, aber davon war nicht mehr auszugehen: Dass die nach dem Tod Andrew Fletchers zum Duo geschrumpften Depeche Mode sich noch mal zu solchen Höhen aufschwingen würden. Bereits der strange-sakrale Opener „My Cosmos Is Mine“ ist interessanter als alles aus den vorigen drei Platten, führte über in „Wagging Tongue“, dessen Melodie und Dynamik so stark sind, dass sie selbst Klischee-Lyrics wie „When you watch another angel die“ verkraften. Danach: „Ghosts Inside“, der gelungenste Popsong der Band seit „Precious“. Was kann nach so einem Trippelschlag noch kommen? Das finale „Speak To Me“ zum Beispiel, eins der ergreifendsten DM-Stücke überhaupt. – Stephan Rehm Rozanes

23. Jaimie Branch – FLY OR DIE FLY OR DIE FLY OR DIE ((WORLD WAR)

Die wohl letzten Aufnahmen, die die 2022 gestorbene Trompeterin, Komponistin und Klang-Visionärin einem über den Jazz hinaus gewachsenen Publikum hinterlassen hat. Die Jazz-Welt ist freudig entsetzt, sie dehnt sich hier von einer Kammercountry-Cello-Version eines Meat-Puppets-Songs bis zum gewaltigen Drum-Noise-Donner in „Take Over The World“. Jaimie Branch jagt eine unmissverständliche Botschaft, begleitet von elektronischen Störfeuersalven, in die Musik: „Gonna take over the world and give it back to the land“. Ein Album, das an der Kante des Lebens spielt, es ist groß und voller Verletzungen. – Frank Sawatzki

22. Ryuichi Sakamoto – 12

Es war die musikalische Chronik eines angekündigten Todes. Auf 12 verarbeitete der japanische Komponist und Pianist seine unheilbare Krebserkrankung in zwölf minimalistischen musikalischen Skizzen. Mit Synthesizer und Piano erzeugte Ryuichi Sakamoto eine dunkelgraue Grundstimmung, die als Ausdruck seiner Gefühlswelt interpretiert werden muss. Die Melancholie wechselt beizeiten ins Bedrohliche. Die Kompositionen bewegen sich zwischen Dark Ambient, impressionistischen Klavierstücken und atonalen Abstraktionen. Das Album wurde an Sakamotos 71. Geburtstag veröffentlicht, zwei Monate später war er tot. – Albert Koch

21. Lankum – FALSE LANKUM

Interessant, wie man in so genannten Indie-Kreisen bis heute für gehobene Augenbrauen sorgt, wenn man von Irish-Folk spricht. Der Gedanke, dass alte Männer mit Bärten in Pubs sitzen und zu Bier mit dem Nutri-Score E „An der Nordseeküste“ mit englischem Text singen, fiedeln und flöten, ist nicht zu zerstören. Wenn, dann von Lankum aus Dublin. Tod und Teufel, Hass und Missgunst, Korruption und Depression – alles das gibt es seit Jahrhunderten. Die gebeutelten Iren können die besten Lieder davon singen. Lankum dekonstruieren auf FALSE LANKUM diese Traditionen mit Hilfe von Lärm und Postrock-Strukturen. – André Boße