ME Liste

ME hat gewählt: Das sind unsere Alben des Jahres 2023


50 Alben, die uns begeistert haben – mit Platten von Boygenius, Mitski und Lana Del Rey.

2. Lana Del Rey – DID YOU KNOW THAT THERE’S A TUNNEL UNDER OCEAN BLVD

Zerschellt in Japan eine Teeschale, greift man seit Jahrhunderten zu Goldstaub. Es wird gar nicht erst versucht, Bruchlinien zwischen den Scherben zu verschleiern: Das pulverisierte Metall zelebriert die Fraktur. Ähnlich verhält es sich mit dieser Platte von Lana Del Rey. Wenn du gehst, nimmst du nur deine Erinnerung mit. Mit jenen – hier übersetzten – Worten zitiert sie auf dem ersten Stück ihren Pastor. Sie denkt zurück an das letzte Lächeln ihrer Großmutter, besingt die Gipfel der Rocky Mountains. An einen der Berge hat ihr Onkel sein Leben verloren. „The Grants“ ist ein herzerschütterndes Gospel – und Del Reys Begehren endlos: Fick mich zu Tode. Liebe mich, bis ich mich selbst liebe. Vergiss mich nicht, fleht sie im anschließenden Titelstück. Aus musikalischer Warte kennen die Lieder keine wirkliche Gegenwart. Versonnen schwelgen sie in Erinnerungen oder Träumen, irgendwo in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Immer wieder hallt ein Echo unter der Singstimme. Wie die Anschläge des Pianos trachten auch die Texte nach Del Reys so geliebten alten Amerika: John Denver, Little Anthony, Harry Nilsson.

Sie alle rühmt oder zitiert die in Manhattan geborene Musikerin im Laufe der Spielzeit von knapp achtzig Minuten. Ihr Orchester spielt Melodien aus Märchenländern, in denen jede Stunde von Neuem die Sonne untergeht. Darüber schwebt ein Himmel, zu dem sie sich die Liebe erkor. Femme fragile und Femme fatale. Auf „A&W“ karikiert Del Rey die Inkarnationen ihrer Weiblichkeit: Das unschuldige Kind, eine gespaltene Prinzessin, die amerikanische Hure. In allen pocht eine beinahe unstillbare Sehnsucht an die Welt. „Fingertips“ schließlich kommt als biografische Introspektion daher: Das Schwimmen mit den Fischen am Strand von Rhode Island. Oder Monaco, wo die Sängerin ein Konzert für den Fürsten vorbereitete, als sie vom Tod ihres Onkels erfuhr.

Am Leben halten sie ihre Beziehungen, Affären und Romanzen. „Let The Light In“ erzählt von der Liaison zweier Musiker: Das verruchte Duett mit Father John Misty ist der wohl eingängigste Titel dieses Albums. „Put the Beatles on, light the candles, go back to bed/ Cause I want you“: Die beiden lassen ihren Trieben die Zügel schießen. Bang bang, kiss kiss. Auf einem Stück berichtet Del Rey von einer Trauerfeier. Es ist der dritte März. Weil vorher der Boden gefror, musste die Grablegung schon einmal verschoben werden. Schließlich durchströmt das Sonnenlicht ihren Körper. „There’s a name for it in Japanese“, wispert sie: „It’s Kintsugi“. – Martin Schüler

1. Anohni & The Johnsons – MY BACK WAS A BRIDGE FOR YOU TO CROSS

Reden für zunächst über das Cover, es zeigt Marsha P. Johnson, ab Ende der 60er-Jahre eine nimmermüde Aktivistin in New York City. Sie kämpft gegen Rassismus und für die Transgender-Bewegung, ist im Queer-Club „The Stonewall“, als dort 1969 die Polizei eine Razzia durchführt und sich die Gäste zu Wehr setzen, arbeitet mit obdachlosen und an AIDS erkrankten Menschen. 1992 findet man sie tot im Hudson River. Die Polizei spricht von Selbstmord, ihre Community bezweifelt das, seit 2002 gilt die Todesursache als ungeklärt. Als Antony Hegarty – heute ANOHNI – Anfang der 90er-Jahre nach New York kommt, begegnet sie Marsha P. Johnson. Es ist ein Erweckungserlebnis, man darf das so pathetisch formulieren. ANOHNI erkennt, dass diese Stadt zur Heimat werden kann, weil New York City eine Community besitzt, die Safe Places bietet, errichtet von Aktivistinnen wie Marsha P. Johnson, die mit ihrer Arbeit und ihrer kompromisslosen Haltung gegen alle Widerstände etwas verändert haben. Marsha P. Johnson stellte ANOHNI damit ihren Rücken zur Verfügung, damit sie, die „Neue“, ankommt und nun selbst für Veränderungen eintritt. Dieser positive Spirit trägt MY BACK WAS A BRIDGE TO YOU TO CROSS, das Album, auf dem ANOHNI wieder zusammen mit den (neu besetzten) Johnsons zusammenspielt.

Nach HOPELESSNESS, dem düsteren Alleingang aus dem Jahr 2016, teilten viele die Befürchtung, ANOHNI pausiere auch deshalb so lange, weil sie keine musikalische Form mehr für ihre Gedanken findet. Schließlich half die Erinnerung an Marsha P. Johnson: Selbst, wenn die Polizei dir die Türen einrennt, dich inhaftieren will, deine Art zu leben verbieten will – du kannst dagegen kämpfen. Es geht immer was: „Aussichtslosigkeit“ ist ein Kampfbegriff der Autoritäten, um Wandel zu verhindern. Zu den konservativen Bedrohungslagen, die dieses Album befeuern, zählen die Verweigerungshaltung der Politik, etwas gegen die Klimakatastrophe zu unternehmen, oder die weiterhin existierende christlich-patriarchale Dominanz, die schon deshalb Angst vor dem Wandel hat, weil sie danach noch tiefer in der Scheiße steckt als sie es eh schon tut. Der Trick ist nun, dads ANOHNI diese Instanzen nicht anklagt. Denn was würde das bringen? Ihr Ansatz ist die Ermächtigung. Und das ist kein leichter Ansatz, denn sie ist nicht naiv, sie weiß um die Wirkungsmacht der Beharrungskräfte, um die Verletzbarkeit des Individuums.

An dieser Stelle hilft Marsha P. Johnson: MY BACK WAS A BRIDGE TO YOU TO CROSS – nimm das, was schon erreicht worden ist und baue darauf auf. Lasse dich davon motivieren. Entdecke es wieder. Entdecke es neu. Die Musik des Albums ist von diesem Gedanken beseelt: ANOHNI & The Johnsons zitieren Marvin Gaye und seinen Sound von WHAT’S GOING ON, „Sliver Of Ice“ klingt nach den milden Momenten von Lou Reed, das Stück basiert auf einer Begegnung mit ihm, als er, schon sehr krank, davon berichtete, was für ein gigantisch gutes Gefühl es sei, einen Eiswürfel im Mund schmelzen zu lassen. Wenn ANOHNI singt, löst sich der Graben zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzweifel auf, beides gehört zusammen, das augenscheinliche Können und die panische Angst vor Kritik. Es ist nie genug, singt sie. Es ist ihr Fehler. Und fast am Ende: „Why Am I Alive Now?“ Zweidrittel der Menschheit würden sie als klagende Frage charakterisieren und das „now“ betonen. ANOHNI betont das „Ich“ und wagt im letzten Song „You Be Free“ einen positiven Gedanken. „Done my work/ My back was broke/ My back was a bridge for you to cross.“ Die Welt verändert sich weiter. Das ist die Hoffnung, die auf leisen Spuren zurück ist. André Boße