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Mitski im Fokus: Über Liebe, Heilung, Sucht


Mitski ist das Pop-Chamäleon, das TikTok-Phänomen & das selbsternannte „schwarze Loch, in das Leute ihren Scheiß werfen“.

Von Depression und Trost: Auch mit ihrem aktuellen Album THE LAND IS INHOSPITABLE AND SO ARE WE macht sie es nicht unter den großen Fragen des Lebens. Aber wie konnte es passieren, dass ein jugendliches TikTok-Publikum ausgerechnet die Kunst-Pop-Autorin Mitski in Weltstar-Dimensionen verehrt?

„Jeder wollte ein Stück von mir“

Als 1231 die noch beinahe jugendliche Elisabeth von Thüringen starb, blieb vom aufgebahrten Leichnam wenig übrig. Schon zu Lebzeiten galt sie als Heilige. Grund genug für die trauernden Christ:innen, die zu ihrer Leiche pilgerten, sich ein Stück Himmelreich zu sichern, wie es in ihrem Körper manifestiert schien. Haare wurden ihr vom Kopf und Nägel aus den Zehen gerissen, Ohren und Finger abgeschnitten. „Jeder wollte ein Stück von mir. Ich war so überwältigt von den Händen, die nach mir griffen, dass ich zu weinen begann, aber sie schienen nicht mein weinendes Gesicht zu sehen. Menschen griffen nach meinem Shirt, und als ich wegkam, war es mehr oder weniger ausgezogen“, beschreibt US-Songwriterin Mitski ganz ähnliche Erfahrungen gute achthundert Jahre später.

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Nur: nach einem Konzert. Nur eben: lebendig. Und bedrohlich. Zugegebenermaßen: Auch die Beatles oder BTS wurden von ihrem Publikum eskalativ belagert. Dabei wirken die immer, als würden sie es eigentlich ganz gut finden, Stars zu sein, die aufdringlichen Fans eher amüsante Anekdote denn körperliche Bedrohung, gutes Material für die B-Roll. Klar, da ist dieses Ding mit Gender. Da ist aber auch noch etwas anderes. Mitski Miyawaki, geboren als Mitsuki Laycock, ist schließlich kein Shootingstar im Teen-Alter, der von gerissenen Major-Managern auf dem Markt platziert wurde, sondern Anfang 30, seit Jahren als Autorin großer, aber auch abseitiger Indie-Pop-Alben bekannt – ihr neuestes Werk THE LAND IS INHOSPITABLE AND SO ARE WE („I pulled a Fiona Apple“, kommentiert sie den langen Titel, es fallen Namen wie Arthur Russell, Ennio Morricone und Caetano Veloso) gehört unbedingt in diese Reihe.

Das TikTok-Phänomen

Eine also, deren fame eigentlich darauf aufbauen müsste, ein mittelaltes Publikum mit Geschmack (aka: Sie, liebe/r Musikexpress-Leser:in) zu versorgen. Stattdessen wurde sie ausgerechnet bei TikTok zum Weltstar. Also in dieser Parallelwelt, die das noch einmal ins Extrem treibt, was die Poptheorie schon immer über das Internet zu sagen pflegte – dass eben das gesamte Archiv der Musikgeschichte nun jederzeit verfügbar ist und zur Collage bereitsteht. Und damit meinte: Die afrikanischen Spuren von HipHop können nun auch außerhalb langjähriger akademischer Studien easy mit Neuer Musik zusammengedacht werden. Und bei TikTok nun bekommt: Die Wiederkehr von Otto Waalkes’ „Friesenjung“ mit Joost und Ski Aggu oder den verspäteten Welterfolg des Shanty-Schlagers „Aloha Heja He“ von Achim Reichel. Bei Mitski war es der Song „Nobody“ von 2018, der 2021 auf der Videoplattform explodierte. Ganze 5,4 Milliarden Mal wurde der Hashtag #mitski dort bis dato gesetzt.

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Dabei ist Mitski nicht nur selbst nicht mehr bei Social Media, sie ist auch auf den üblichen Kanälen keine Person, die viel über ihr Privatleben verlauten lässt. Mittlerweile nicht einmal mehr überhaupt etwas: Für ihr neues Album hat sich Mitski entschieden, vorerst keine Interviews zu geben. Die Zitate sind also zusammengeklaubt, einerseits aus vergangenen Interviews der Künstlerin, das lange oben zum Beispiel aus dem „Guardian“. Zum anderen hat der Musikexpress exklusiv von ihrem Management mehrere Sounddateien erhalten, in denen Mitski über einzelne Songs spricht, zugegebenermaßen nicht sonderlich juicy – „zu lieben ist das Beste, was ich je gemacht habe“, so etwas etwa, nichts, was sich anbietet, das Phänomen zu begreifen, aber musiktheoretisch durchaus spannend, Akkordfolgen und Produktionskniffe.

Das Pop-Chamäleon

Selbstdarstellung bei Mitski, wenn überhaupt also, eher à la klassischer Pop: Irgendwie muss man ja über sich selbst sprechen, zumindest in der Musik, wenn man es ernst meint mit dem Songwriting. Aber dass die Musik dann von einem Ich handeln muss, das mit dem singenden Körper übereinstimmt – das hat Pop immer unterlaufen. Und dass Mitski das auch tut, ist eigentlich grandios. Denn das berühmte Pop-Chamäleon, das ist meistens doch ein weißer Mann, während Frauen of Color in Pop oft genug von Publikum und Presse zwangsverpflichtet werden, Herkunft und Identität zu repräsentieren.

Mitski hat in ihrer Karriere beide Optionen bespielt. Ihr Durchbruch 2016 gelang mit einem Album von Indie-Punk-Ohrwürmern. PUBERTY 2 hatte bittersüße Explosionen, aber handelte eben auch vom Gefühl, nicht ganz dazuzugehören, Outsidertum, Einsamkeit, Unsicherheit. Es war leicht, diskriminierende Erfahrungen als asiatisch-amerikanische Frau in ein Lied wie „Your Best American Girl“ oder „Strawberry Blond“ hineinzuinterpretieren.

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Dass BE THE COWBOY danach wesentlich mehr Grandezza als Punk-Attitüde hatte, war hier kein Zufall, sondern eine Rückkehr zu ihrem Sound, denn ihre ersten, wenig erfolgreichen Alben waren eher klavier-lastiger Art-Pop. BE THE COWBOY war nicht nur im Sound ein großes Album, sondern auch aufgrund seiner Raffinesse, seiner kompositorischen Qualität. Und eben, weil, wie der Titel schon sagt, hier implizit ein Spiel mit Rollen entsteht. Rollen, in denen Mitski mit einer performativen Aufrichtigkeit aufzugehen scheint.

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Genau der richtige Pop also vielleicht für die Sensibilität der Generation Z, nein, ach was, schon Alpha, für die Gefühle authentisch sein müssen, aber andererseits authentisch werden dadurch, dass sie kommuniziert werden, also produktiv gemacht werden können für die eigene Identität. Radikale Subjektivität, die aber in der Sprache der Außendarstellung funktionieren muss, und auch in der Grammatik der sozialen Medien. Mitski liefert Stücke, die so spezifisch klingen, dass sie auf eine reale Erfahrung zu rekurrieren scheinen, auch wenn die Künstlerin sich dagegen verwehrt, diese zu bestätigen oder gar offen zu legen, die aber andererseits auch so offen sind, dass sie für ihre Fans als Erzählungen aus dem eigenen Leben angeeignet werden können.

„Ich bin das Schwarze Loch, in das die Leute all ihren Scheiß werfen“

„Ich bin das Schwarze Loch, in das die Leute all ihren Scheiß werfen, sei es ihr Bedürfnis nach Liebe, Hass oder Wut“, sagte sie 2022. Was ja ein spannendes Bild für „Projektionsfläche“ ist – nämlich ihr genaues Gegenteil. Ein Schwarzes Loch ist schließlich kein Spiegel, nicht einmal Materie, sondern ein Materiefresser, passiv und aktiv zugleich.

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Es würde schwerfallen, Mitski zu unterstellen, damit Pop viel eher durchgespielt zu haben als die großen One-Size-Fits-All-Acts von Bill Haley bis Helene Fischer, aber ihr völlig unerwarteter Erfolg jenseits der Musikindustrie spricht doch dafür, dass hier etwas passiert ist, das nicht einfach Zusammenspiel aus Zufall und algorithmischer Lawine ist, sondern eine andere Ökonomie der Gefühle. Mitski ist Popstar nicht, obwohl sie eigentlich anspruchsvolle Stücke voller Abseitigkeiten und Issues macht, sondern deswegen. Weil es ein Bedürfnis gibt, Issues repräsentiert zu sehen, so lange der Leidensdruck an ihnen so konsumierbar bleibt, dass es noch in Pop passt. Und was für einen, in diesem Fall! Und wie toll überhaupt, dass sie gehört wird!

Von Massen gesungen

Es bleibt eine merkwürdige Erfahrung, einerseits diese klug ausgespielte, intime, reife und wie immer überlebensgroße Musik von THE LAND IS INHOSPITABLE AND SO ARE WE zu hören, Momente großer Fragilität, Trost und Liebe zu finden und zu wissen, dass diese Lieder bald von Massen mitgesungen werden. Lieder, die versuchen, das Selbst nicht in Warenförmigkeit zu pressen. „Bug Like An Angel“, die wunderschöne, traurige Leadsingle, kommt im Akustik-Gewand daher und die Musikerin im Video in Gospel-Robe. Das Lied greift aber Alkoholismus auf, eine der wenigen Suchtkrankheiten, die sich nicht wirklich glamourifizieren lassen. Überhaupt findet Mitski, das sei eigentlich ein Album wie ein Mensch in der Midlife-Crisis, und Schönheit und Tristesse kommen hier offenkundig aus der gleichen Quelle. Wollte Mitski noch düsterer werden, um die darkness abzuschütteln, die ihre Fans auf sie werfen?

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Fast ironisch, dass die Passage, in der der Gospelchor in das Lied tritt, um die trinkende Erzählerin, die in ihren Drinks eine Familie findet, mit einem warmen „Family“ zu umarmen, einfach danach schreit, auf TikTok gesamplet und duettet zu werden.

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Es geht bei den körperlichen und emotionalen Zu- und Übergriffen auf den Menschen Mitski wohl tatsächlich um Heilung, um Elisabeth von Thüringen. Mitski nicht als Objekt des Begehrens, sondern als Fetisch des Verbundenseins, als Heilige der Identifikation in Angst und Krankheit. Was das Erlebnis nicht weniger bedrohlich macht. Als sie 2022 auf ihrem längst von einem PR-Team geleiteten Twitter-Account ihre Fans bat, etwas sparsamer bei Konzerten zu filmen, sie spüre keine Verbindung mehr zur Menge und fühle sich bloß noch konsumiert, reagierten zahlreiche Fans damit, ihr zu unterstellen, ihr Sicherheitsbedürfnis angesichts mentaler Leiden wie ADHS oder Depression, die das Festhalten am Handy als Widerstandsstrategie nötig machen, zu ignorieren. Radical Softness as a Weapon, aber gegen wen? Dass sie trotzdem weiter macht, trotzdem weiter Musik macht wie diese, es bleibt ihr hoch anzurechnen.

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