Album der Woche

Black Midi 

Schlagenheim 

Rough Trade/Beggars/Indigo (21.6.) 

Die Kunst der Richtungsänderung – das Quartett aus dem Süden Londons bringt Math-, Prog- und Punkrock in den diversen Windstärken in Stellung. 

Gut und gerne 1000 Mal ist die Rockmusik schon geboren worden. Mit dem ersten Schrei von Elvis und dem Pluckerrhythmus der Zweidollarfünfzig-Gitarre zum Beispiel, mit der amtlichen Zertifizierung im Song „You Really Got Me“ von den Kinks 1964 (das Riff! der präparierte Verstärker!), natürlich mit dem Exhibitionismus im Echohall von Led Zeppelin in den frühen 70ern und der Abrechnung der Selbstherrlichkeit im heroischen Gestotter des Punkrock ein paar Jahre später.

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Daraufhin reflektierte eine Generation der Antirockisten sich und ihre Herkunft in den Splitterteilchen all der Post-Musiken, das war eine lebens-rettende Maßnahme am offenen Herzen des Patienten Rock. Stephen Malkmus und Pavement ließen in den 1990ern dann den letzten Rest dessen, was Rock einmal war, zerfranst und durchlöchert liegen. Entmachtung, Entmannung, auch das ein so schillernder wie bedeutender Moment in der langen Historie. Dem war eigentlich nichts Essenzielles mehr hinzuzufügen in den letzten knapp 20 Jahren, oder? Die Gitarren verstaubten selbst in den digitalen Baukästen der daran noch interessierten Produzenten. Eine letzte Volte des im Kanon versunkenen Rock? Fehlanzeige. 

Eine Geschichte von den Totgesagten, die wiederaufleben und aufdröhnen

SCHLAGENHEIM erzählt nun die Geschichte von den Totgesagten, die wiederaufleben und aufdröhnen, für das Book of Rock, Jahrgang 2019, noch einmal neu. Mit einem Gitarrenriff, das sich von Sekunde eins an wie ein Loop in die Aufnahme dreht, unbarmherzig immer weiter zieht und kratzt und so richtig wehtut – wenn das jetzt hier mal kein richtiges Noise-Rock-Brett wird? Der Aufgalopp im Song „953“ hat aber noch mehr als eine überraschende Wendung parat, auf das „Loop“ folgt ein Break, auf das Break folgt eine Kontemplation auf der akustischen Gitarre, die das Riff vom Anfang übernimmt und nach 100 Sekunden tritt ein Sänger mit kryptischen Zeilen in den eher dunklen Klangraum: „Please stop all of this, strange fantasy. This is not who you are, not who you want to be.“

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Später nimmt die Band in „953“ wieder den Noise-Faden auf, reicht ihn in den nächsten Track, der sich irgendwie jazzig anhört und landet in Song Nummer drei, einem schmutzigen, zerfledderten Bastard aus Math- und Progrock, der von einem pumpenden Bass und einer schwer atmenden Gitarre zwischenzeitlich noch einmal ganz woanders hingezogen wird.

Diese Songs kennen keine Orte mehr, sie fallen manchmal vollkommen unerwartet von einem Zustand in den nächsten, von Wehmut und Verwirrung in das, was wir für Wut halten könnten. Aber einen Stempel drauf gibt’s dann doch nicht, „it may be new, it may be cross, it may be sweat, it may be woe, it may be hard“. Der Song trägt den Titel „Reggae“. Das Riesenpfund dieser Musik ist, dass sie auch nach mehrmaligem Hören ein großes Geheimnis bleibt. 

Black Midi spielen im Oktober drei Shows in Deutschland

Die Geschichte von Black Midi aus dem Süden Londons, die sich in der Brit School (für darstellende Künste) zusammentaten, musste derweil schon einmal ausgespuckt werden. Sie war in den „Bands to watch“-Listen angedeutet worden und wird nun vor dem Hintergrund des Albums zu einer Folie für Interpretationen: Sänger Geordie Greep und Drummer Morgan Simpson haben ihre musikalische Sozialisation in Kirchenbands begonnen, Greep und Gitarrist Matt Kwasniewski-Kelvin spielten als Straßenmusiker mit Jimi-Hendrix-Coverversionen ein paar Pfund in die Studentenkasse.

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Hinweise könnte auch die Led-Zep- und Black-Sabbath-CD-Sammlung geben, die Greep seinem Vater verdankt, oder die Lehrer, die ihnen Zappa, Kraftwerk und D’Angelo erklärten. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als Produzent Dan Carey die Band entdeckt, als er dieses „Boom Boom Boom“ live hört, das jetzt als „BmBmBm“ auf der Platte ist. Der trockene Mix, den Carey der Band verpasst hat, ist nicht das Ereignis, vielleicht sind das noch nicht einmal die Songs, die zwischen zwei und acht Minuten lang sind.

Schreien aus dem Kreißsaal, die auch von Gitarren stammen können

Aber gleich, welchen Rahmen Black Midi für ein Stück veranschlagen, sie extemporieren über die Kunst, die Lust an der Veränderung. Sie switchen von laut zu leise, sie spielen stop & go mit ihren Instrumenten, unternehmen diese Tempi- und Richtungswechsel, die jedem Pixies-Fan einen aufgewühlten Bauch bescheren könnten, wenn das nicht doch eine Idee zu mathematisch klingen würde. Black Midi stehen auch in einer bitischen Prog- und Noise-Tradition (King Crimson, This Heat), verlassen diese aber immer genau dann, wenn man sie entdeckt zu haben scheint. Dass diese kreuz und quer schießenden Rocksongs aus mehrstündigen Ambient-Sessions entwickelt worden sein sollen, gehört zu den größten Rätseln, die SCHLAGENHEIM aufgibt. 

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Für ein Debüt klingt das Album durchaus erwachsen, im selben Moment aber lassen Black Midi ihre Rockfantasien einfach mal ins Blaue schießen, in allen Windstärken, die der Punkrock so kennt, angeführt von Schreien aus dem Kreißsaal, die auch von Gitarren stammen können. Wir sind äußerst erfreut, den Anwärter auf einen weiteren Wiedergeburtshelfer des Rock vorgestellt haben zu dürfen.

Das neue Black-Midi-Album „SCHLAGENHEIM“ im Stream hören:

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